* * *
Auf der OPS herrschte das totale Chaos. Mehrere Kontrollen waren ausgefallen. Überall hingen verschmorte Kabel. Zusammen mit Odo und einigen Sicherheitsleuten war Chief O’Brien mit der Löschung eines größeren Brandes beschäftigt, der unmittelbar neben dem Turbolift ausgebrochen war. Verwundete stöhnten und das herbeigerufene Medoteam hatte alle Hände voll zu tun.
Obwohl die Berichte der einzelnen Abteilungen noch nicht eingegangen waren, bestand für Commander Sisko kein Zweifel daran, dass die Lage in den übrigen Teilen der Station ebenso kritisch war. Woher Gul Dukat so genau wusste, wann das Ultimatum der Maquis ablaufen würde und wer von den Geiseln dann als erster sterben sollte, würde er wohl nie erfahren. Jedenfalls hatte der Befehlshaber der zweiten cardassianischen Flotte, kaum dass die von Rayna gewährte Stunde vergangen war, ein persönliches Gespräch mit Garak verlangt und ihm genau 15 Minuten Zeit gegeben, dasselbe zu arrangieren. Die Maquis hatten auf keinen seiner Rufe reagiert und mit Verstreichen der Frist hatten Gul Dukats Schiffe gleichzeitig das Feuer eröffnet.
Bereits die ersten Treffer hatten die Energie der Schilde um 40% verringert und jetzt, nach der zweiten Angriffswelle war ihre Stärke auf lediglich 20% gesunken. Weiteren Treffern würden sie nicht mehr lange standhalten können.
Bisher hatte er vermieden, das Feuer zu erwidern, wohlwissend, dass es kein Zurück mehr gab, wenn sie sich erst einmal auf ein Gefecht mit den Cardassianern eingelassen hatten. Dann würde ein Krieg endgültig nicht mehr zu verhindern sein.
-- doch jetzt hatte er keine andere Wahl mehr --
Noch einige solche Treffer und die Station würde auseinanderbrechen.
-- er wäre ohne zu zögern bereit gewesen, sein Leben zu opfern --
Durch den Rauch konnte er die blassen Gesichter von Dax und Lieutenant Mulligan sehen.
-- aber er trug die Verantwortung für alle hier --
Mittlerweile verfügte DS9 über eine Bewaffnung, die es durchaus mit mehreren cardassianischen Kriegsschiffen aufnehmen konnte. Den angespannten Zügen des Fähnrichs, der die Waffenkontrollen bediente, war zu entnehmen, dass er nur auf den entsprechenden Befehl wartete und nicht begriff, wieso sein kommandierender Offizier bislang noch zögerte, diesen zu erteilen.
Sisko holte tief Luft. „Mr. Byron, Phaser und Photonentorpedos klar zum ...“
Plötzlich hallte eine Stimme über die OPS:
„Hier spricht Ro Laren von den Maquis. Und ich rufe Commander Sisko.“
Die Hand des Sternenflottenoffiziers flog zum Kommunikator. „Hier Sisko. Falls Garak noch am Leben sein sollte, dann geben Sie ihn mir, schnell! -- Verdammt, machen Sie schon, oder wir alle werden sterben!“
Einige Sekunden der Stille folgten, die dem Kommandanten von DS9 wie Stunden vorkamen. Dann erklang die dunkle Stimme des Cardassianers : „Sie wollten mit mir reden, Commander.“
Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchflutete Sisko. „Garak, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Sie zu hören!“
„Ich denke doch, Commander, aber wir sollten unsere Freudenfeier auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Für den Moment schlage ich vor, dass Sie mich unverzüglich mit Dukat verbinden. Schließlich müssen wir den guten Gul davon abhalten, in seinem übereifrigen Bestreben, meinen vermeintlichen Tod zu rächen, die Station zu zerstören.“
Erstaunt registrierte Sisko den ungewohnt autoritären Tonfall Garaks. Doch für irgendwelche Überlegungen war jetzt keine Zeit.
Gerade wurde die Station von weiteren Treffern erschüttert. Von einem Moment auf den anderen erlosch die Beleuchtung. Jetzt wurde die OPS nur noch von den blinkenden Lichtern der letzten intakten Anzeigen erhellt. Ein schriller Warnton zeigte an, dass die Schutzschilde endgültig zusammengebrochen waren. Wenn es ihnen nicht gelang, den Angriff aufzuhalten, würde die nächste Salve vermutlich ihr Ende bedeuten.
„Lieutenant Dax, einen Kanal zum cardassianischen Flaggschiff öffnen!“ Sisko schickte ein stummes Gebet zum Himmel, dass das Kommunikationssystem noch funktionierte.
„Ich empfehle eine Simultanschaltung zu den anderen beiden Kommandanten, Benjamin“, schlug die Trill so ruhig vor, als befände sie sich nicht mitten im Zentrum der totalen Zerstörung. „Der Umstand, dass Garak nicht tot ist, wird die Pläne des Oberkommandos durchkreuzen“, fuhr Jadzia fort, während sie ihre Konsole von herabgefallenen Kabeln befreite. „Allerdings nur sofern diese Tatsache auch bekannt wird. Gul Dukat könnte auf die Idee kommen, dass mit der Vernichtung von DS9 auch sämtliche Beweise dafür verschwinden. -- Ganz abgesehen davon, dass er Garak hasst und ihn auf diese Weise elegant loswerden würde.“
Sisko nickte zustimmend. „Einverstanden.“
Die Finger der Trill schoben das letzte störende Kabel beiseite, dann glitten sie hastig über einige Tasten, worauf die Schwärze des Bildschirms den Gesichtern Gul Dukats und zweier weiterer Cardassianer wich.
Der ehemalige Präfekt lächelte herablassend. „Darf ich annehmen, dass Sie vorhaben, sich zu ergeben?“
„Keineswegs“, entgegnete Sisko kühl. „Aber hier ist jemand, der Sie gerne sprechen möchte.“
* * *
Der Mann lehnte an einem der zahlreichen Panoramafenster von DS9 und starrte nachdenklich in die Tiefen des Weltalls. Er trug die einfache Kleidung eines Prylaren. Einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass er einen Ohrring trug, der diesem Rang in der Hierarchie eines bajoranischen Ordens nicht entsprach, doch inmitten des Chaos, das seit Beginn des cardassianischen Angriffs überall auf der Station herrschte, nahm niemand von ihm Notiz. Jetzt drehte sich der Mann um und beobachtete voller Verachtung, wie Bajoraner, Menschen und andere Humanoide schreiend an ihm vorbei rannten, offenbar von dem einzigen Wunsch beseelt, sich vor diversen Bränden und herabfallenden Trümmern in Sicherheit zu bringen.
Tahna Los hatte sich noch nie vor dem Tod gefürchtet, doch er bedauerte, derart sinnlos zu sterben. Zumindest musste er sich um die Erfüllung seines Auftrages dann keine Sorgen mehr machen. Mochte dieser Bareil sich durch seine offene Unterstützung der Föderation auch gegen bajoranische Interessen gestellt haben, hatte ihn, die Vorstellung, einen Vedek umzubringen doch mit Unbehagen erfüllt. -- Und soweit es Kira betraf ...
Insgeheim hatte er gehofft, dass diese Leute, in deren Hand sich die Beiden befanden, ihm die Arbeit abnehmen würden. Die Chancen dafür hatten gar nicht schlecht gestanden, auch wenn seine Auftraggeberin befürchtete, dieser Commander Sisko würde einen Weg finden, die Geiseln zu retten. Dies war auch der Grund gewesen, warum sie ihn aus dem Gefängnis geholt und nach DS9 geschickt hatte. Falls der Sternenflottenoffizier, der hier das Kommando hatte, es wider Erwarten schaffen sollte, die Maquis zu überrumpeln bevor sie Kira und Bareil erschossen hätten, sollte er die ehemalige Freiheitskämpferin und ihren geistlichen Geliebten ermorden -- und zwar so, dass die Schuld an ihrem Tod der Föderation angelastet werden konnte.
Tahna Los kam nicht umhin, die Raffiniertheit dieses Planes zu bewundern -- und die Frau, die ihn ersonnen hatte. Mittlerweile war er ziemlich sicher, um wen es sich bei der Unbekannten handelte, und dieses Wissen ließ sie in seiner Achtung nur noch mehr steigen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, nach dieser Aktion Bajor, dem es gleich gewesen war, was aus ihm wurde, den Rücken zu kehren. Doch nun war dieser Entschluss ins Wanken geraten. Diese Frau und er verfolgten die gleichen Ziele, was lag also näher, als in der Heimat zu bleiben und ihre Bemühungen nach besten Kräften zu unterstützen? -- Das hieß, sofern die verfluchten Cardassianer diese Station nicht vorher zerstörten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Erschütterungen aufgehört hatten. Irgendwie musste es diesem Commander Sisko gelungen sein, einen weiteren Beschuss von DS9 zu verhindern. Vielleicht hatte seine Auftraggeberin mit ihren Befürchtungen doch recht gehabt. Wer es fertigbrachte, die Cardassianer zu stoppen, für den würde auch die Überwältigung einer Handvoll Geiselnehmer keine größere Schwierigkeit darstellen. Wie dem auch sei, mochte dieser Sternenflottencommander sich anstrengen wie er wollte, am Ende würde die Föderation doch der Verlierer sein -- dafür würde er, Tahna Los, schon sorgen.
* * *
Unter der Leitung von Chief O’Brien waren die Reparaturarbeiten auf der OPS in vollem Gange.
In seinem Büro studierte Commander Benjamin Sisko die Berichte, die nach und nach von den einzelnen Abteilungen eingingen. Zum Glück wirkten die Schäden gravierender als es tatsächlich der Fall war. Trotzdem nahm er sich vor, sobald das alles hier vorbei war, einen offiziellen Protest an die cardassianische Regierung abzufassen -- aber im Moment gab es Wichtigeres, das seine Aufmerksamkeit erforderte.
Zum ersten Mal seit Beginn dieser ganzen Sache, hatte er das Gefühl, die Situation halbwegs im Griff zu haben. Angesichts der unleugbaren Tatsache, dass Garak noch am Leben war -- und Dank der Simultanschaltung, die es ihm unmöglich gemacht hatte, dies vor den anderen cardassianischen Kommandanten zu verheimlichen, hatte Gul Dukat schließlich notgedrungen den Befehl zur Beendigung des Angriffs erteilt. Die anschließende Kommunikation mit Ro Laren hatte ergeben, dass die Bajoranerin mittlerweile dort im Kasino die Führung übernommen hatte -- und dass sie im Gegensatz zu dieser Rayna nicht auf der bisherigen Forderung der Maquis beharrte, sondern bereit war, die Geiseln im Austausch für ein schnelles Shuttle und sicheres Geleit in die entmilitarisierte Zone freizulassen. Letzteres indessen würde nicht gerade einfach werden, da die drei cardassianischen Kriegsschiffe sich nach wie vor in der Nähe der Station aufhielten, doch er hatte Ro Laren sein Wort gegeben, eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Genaugenommen hätte er als Offizier der Sternenflotte dieses Versprechen gar nicht machen dürfen. Vielmehr wäre er verpflichtet gewesen, die Maquis unter allen Umständen, notfalls auch mit Unterstützung der Cardassianer gefangen zu nehmen..
-- aber er hatte durchaus Verständnis für die verzweifelte Lage der Kolonisten und den daraus resultierenden Kampf des Maquis --
Für die Admiralität mochten diese Leute nichts weiter als Verbrecher sein, aber zahlreiche Angehörige der Sternenflotte, darunter auch einige seiner besten Freunde, waren genau wie Ro Laren desertiert und zum Maquis übergelaufen. Sie alle handelten so, weil sie fest davon überzeugt waren, nur auf diese Weise der Gerechtigkeit zum Erfolg verhelfen zu können.
-- und wenn er ehrlich war, vertrat er ebenfalls die Meinung, dass die Föderation die Zivilisten in den ehemaligen Kolonien nach der Neufestlegung der Grenze im Stich gelassen hatte --
Aus all diesen Gründen hatte der Kommandant von DS9 kein besonderes Interesse daran, dass Ro Laren und ihre Gruppe getötet wurden oder -- was zweifellos weitaus schlimmer wäre -- den Cardassianern gar lebend in die Hände fielen. Gul Dukat seinerseits würde mit Sicherheit alles unternehmen, um genau das zu erreichen. Irgendwie musste es ihm gelingen, jegliches Eingreifen von Seiten des Befehlshabers der zweiten cardassianischen Flotte auszuschließen -- und er hatte da auch schon eine Idee.
* * *
Ro Laren saß an einem der kleinen Nischentische der Bar und musste sich zwingen, die stumme Verachtung in Perrys blauen Augen nicht zu beachten. Der Blick des Terraners war eine einzige Anklage und die Botschaft, die er ihr damit vermittelte, war einfach und klar: Verräterin!
Im Gegensatz zu Perry hatte Rayna sich nicht darauf beschränkt, dieses Wort nur zu denken. Seit die Kolonistin aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie die Bajoranerin bereits mehrmals voller Zorn so bezeichnet. Vergeblich hatte Ro versucht, der jungen Maquis zu erklären, warum sie so hatte handeln müssen. Rayna war ebenso fanatisch, wie es seinerzeit die bajoranischen Freiheitskämpfer gewesen waren, die jemanden bereits dann als Überläufer brandmarkten, wenn er ihnen aus Angst um seine Familie seine Hilfe verweigerte. Nach ihrer Flucht aus dem Flüchtlingslager hatte Ro zunächst einige Wochen bei einer kleineren Widerstandsgruppe verbracht, ehe sie Bajor endgültig verließ, um bei der Sternenflotte ein neues Leben anzufangen. Während dieser Zeit war sie mehr als einmal Zeuge geworden, auf welche Weise die Rebellen solche Kollaborateure zu bestrafen pflegten. Damals hatte sie dies für Gerechtigkeit gehalten, doch mittlerweile war ihr klargeworden, dass die Grenze zwischen Recht und Unrecht nicht immer so gerade verlief wie sie früher geglaubt hatte.
Fast war die Bajoranerin dem pochenden Schmerz in ihrer linken Schulter dankbar, weil er sie daran erinnerte, dass es kein Zurück mehr gab. Nachdem Bashir wieder zu sich gekommen war, hatte er die Verletzungen von Rayna und den anderen versorgt. Der Arzt hatte sich auch um ihre Schulter kümmern wollen, war jedoch an ihrem Widerstand gescheitert. Ro wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, auch nur für wenige Sekunden abgelenkt zu sein. Rayna wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, um sie zu überrumpeln und die Bajoranerin hatte keineswegs die Absicht, ihrer ehemaligen Anführerin eine solche zu verschaffen.
Ro ließ musterte die Geiseln gleiten, die auf ihren Befehl hin in unmittelbarer Nähe an einem der Dabo-Tische saßen. Obwohl es ein nicht unerhebliches Risiko bedeutete, hatte sie allen außer Garak die Sklavenhalsbänder abgenommen. Der Cardassianer hatte bereits bewiesen, was für ein gefährlicher Gegner er war. Außerdem würde er im Gegensatz zu den anderen Gefangenen vermutlich keinerlei Hemmungen haben zu töten, wenn er sein Ziel nicht anders erreichen konnte.
Als hätte er die Gedanken der Bajoranerin erraten, drehte Garak seinen Kopf in ihre Richtung und sah sie an. In seinen dunklen Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte. -- Und plötzlich hatte sie das unerklärliche Gefühl, diesem Mann schon früher einmal begegnet zu sein. Viele Cardassianer hatten schon ihren Weg gekreuzt seit sie aus dem Flüchtlingslager entkommen war, doch die meisten hatten das Zusammentreffen nicht überlebt, und die anderen ...
Die Gesichter ihrer Gegner pflegten sich für gewöhnlich unauslöschlich in ihr Gedächtnis einzubrennen. Allerdings gab es auch in ihrem Leben Ereignisse, die sie unbewusst verdrängt hatte, weil es manchmal besser war zu vergessen ...
Ihre Versuche, sich zu erinnern, wurden durch eine Stimme unterbrochen, die durch das Kasino schallte: „Hier ist Benjamin Sisko, ich möchte mit Ro Laren sprechen.“
Die Bajoranerin verbannte alle Überlegungen in einen hinteren Winkel ihres Kopfes. Die Vergangenheit konnte warten -- die Gegenwart war wichtiger.
„Hier Ro, haben Sie das Problem mit den Cardassianern gelöst?“
„Ich hoffe es jedenfalls“, kam es zurück. „Es gibt nur einen einzigen Weg, Gul Dukat von einem Angriff auf das Shuttle abzuhalten. An Bord muss sich eine Geisel befinden -- und zwar eine, deren Tod das Oberkommando einer Handvoll Terroristen wegen nicht riskieren wird. Dieser Umstand trifft, wenn überhaupt, aber nur auf einen Angehörigen der Sternenflotte zu.“
„Schlagen Sie etwa vor, dass ich den Doktor in die entmilitarisierte Zone mitnehmen soll?“, fragte Ro erstaunt. „Soweit ich mich entsinne, war der Preis für unsere Freiheit mein Zugeständnis, alle Geiseln freizugeben, bevor wir die Station verlassen.“
„Und daran hat sich auch nichts geändert“, erwiderte der Kommandant von DS9 mit Nachdruck. „Ich habe keineswegs vor, das Leben eines anderen in Gefahr zu bringen.“
„Aber wer soll dann ...“
„Ich werde Sie begleiten.“
„Sie!“ Die Bajoranerin brauchte einige Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. „Das wollen Sie wirklich tun? Aber warum?“
„Weil ich Ihnen mein Wort gegeben habe. -- Und, wie ich gegenüber Rayna bereits erwähnte, pflege ich meine Versprechen zu halten.“
„Und wenn Gul Dukat sich auch von Ihrer Anwesenheit nicht an einer Zerstörung des Shuttles hindern lässt?“
„Nun, dann haben wir wohl alle Pech gehabt.“
Ro kam nicht umhin, den Mut dieses Mannes dort auf der anderen Seite des Kraftfeldes zu bewundern. „Offenbar sind Sie fest entschlossen, Commander. Und ich wäre ein Narr, wenn ich Ihr Angebot ablehnen würde.“
„Da haben Sie recht. Wenn Sie einverstanden sind, können wir den Austausch vornehmen, sobald Sie das Kraftfeld deaktiviert haben.“
Ro zögerte. Mehr als die Hälfte des Stationspersonals waren Landsleute von ihr. Hinzu kamen etliche bajoranische Zivilisten, die sich auf DS9 aufhielten. Sie konnte sich vorzustellen, welche Art von Gefühlen diese Leute gegenüber einer Bajoranerin und ihren Freunden hegten, die sich an einem Vedek vergriffen hatten. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die aufgebrachte Menge sie alle kurzerhand lynchen würde, noch ehe sie das Shuttle erreicht hatten. Ro bezweifelte, ob ihre Landsleute sich allein durch die Bedrohung von Siskos Leben von einem solchen Vorhaben abhalten ließen. Immerhin hatte der Kommandant von DS9 sich trotz der Gefahr für einen der geistigen Führer Bajors geweigert, die ursprünglich an ihn gerichtete Forderung zu erfüllen. -- Und wenn es um ihren Glauben ging, neigten die meisten ihrer Landsleute zu einer Form von Fanatismus, die bei der gerechten Bestrafung von Frevlern keine Rücksicht auf einen Mann nehmen würde, der sich aus ihrer Sicht seinerseits einer Beleidigung der Propheten schuldig gemacht hatte. Es gab nur einen Weg, um zu garantieren, dass es nicht soweit kam.
-- sie hatte so viel Schuld auf ihre Seele geladen, was spielte eine weitere da noch für eine Rolle? --
„Erwarten Sie mich an der Tür“, sagte Ro. „Dann werde ich alle Gefangenen mit Ausnahme Ihrer Stellvertreterin und des Vedeks in der Bar zurücklassen.“
-- mochten die Propheten sie strafen, aber die Mitnahme des Vedeks war nötig -- nur sie gewährleistete, dass diese Kira keinen Befreiungsversuch unternahm --
„Darf ich Sie daran erinnern, dass wir eine Vereinbarung haben ...“
„An die ich mich auch halten werde“, unterbrach sie ihn. „Aber wie Ihnen zweifellos bekannt sein dürfte, haben meine Landsleute ein ausgesprochen hitziges Temperament. Deshalb ziehe ich es vor, wenn die Beiden uns bis zum Shuttle begleiten. Diese Bedingung müssen Sie mir schon zugestehen.“
Für einige Sekunden herrschte Stille, während der Kommandant von DS9 offenbar das Für und wider abwägte, dann hatte er sich entschieden.
„Einverstanden, aber wenn wir an der Luftschleuse angekommen sind, werden Sie Major Kira und Vedek Bareil sofort freilassen.“
„Das werde ich, Commander. -- Ich schwöre es, bei den Propheten.“
* * *
Die Stimmung auf dem Promenadendeck glich brodelnder Lava. Commander Sisko war Odos Empfehlung, den Weg bis zum Andockring weiträumig abzusperren, nicht gefolgt, da eine solche Anordnung die Gemüter noch mehr erregt hätte. Außerdem waren die meisten Sicherheitsleute der Station selbst Bajoraner. Mit der offenen Unterstützung durch die provisorische Regierung und der Kai im Rücken, hätten sie sich wahrscheinlich ohnehin geweigert, einen solchen Befehl auszuführen.
Von seinem Platz in der Menge aus, beobachtete Tahna Los, wie der Kommandant von DS9 sich dem Spielkasino näherte und zum Kommunikator griff. Ein kurzer Wortwechsel -- dann war es soweit. Die Abschaltung des Kraftfeldes wurde von einem hellen Summen begleitet. Schlagartig wurde es totenstill. Alle Augen richteten sich auf die Tür der Bar, die sich nun langsam öffnete.
Die erste, die heraustrat, war Major Kira, dicht gefolgt von Ro, die den Arm von Siskos Stellvertreterin gepackt hatte und sie wie einen lebenden Schild vor sich her schob. In ihrer rechten Hand hielt Ro einen Phaser, dessen Mündung sie der anderen Bajoranerin in den Rücken presste. Direkt hinter den Beiden folgte Bareil. Genau wie Kira war der Vedek gefesselt und wurde von Rayna und Perry flankiert, die ebenfalls bewaffnet waren. -- Mit dem Unterschied allerdings, dass sich die Energiezellen ihrer Phaser in der Tasche von Ro Larens Jacke befanden.
Angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die ihre derzeitige Lage bot, hatte die Bajoranerin die anderen beiden Maquis ohne größere Schwierigkeiten von den Vorteilen eines vorläufigen Burgfriedens überzeugen können. Indessen bezweifelte sie, ob Rayna sich mit einer schussbereiten Waffe in der Hand noch an die mit Sisko getroffene Abmachung, die bajoranischen Geiseln an der Luftschleuse freizulassen, halten würde -- und Perry würde sich der rothaarigen Kolonistin ohne zu zögern anschließen.
-- zwing mich niemals zwischen Dir und Rayna zu wählen --
Ro Laren spürte die stumme Welle des Zornes, die ihr entgegenschlug. Sie war es gewohnt, mit der Ablehnung ihrer Umgebung fertig zu werden. Bereits auf der Sternenflottenakademie hatte ihre Weigerung, sich anzupassen, sie zur ewigen Außenseiterin verdammt und daran hatte sich auch später nichts geändert. Die Kommandanten der verschiedenen Föderationsschiffe, auf denen sie ihren Dienst versehen hatte, waren stets bestrebt gewesen, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Selbst in den Reihen der Maquis gab es etliche, die sie wegen ihrer offenen und direkten Art mieden. Aber diesmal waren es keine Fremden, sondern ihre eigenen Landsleute, die sie ihren Hass und ihre Verachtung spüren ließen und der Schmerz, den sie empfand, war kaum zu ertragen. Ro Laren zwang sich, die auf sie gerichteten, feindlichen Gefühle zu ignorieren und sich auf das einzige Gesicht zu konzentrieren, in dem sie einen winzigen Funken von Mitleid und Verständnis zu erkennen glaubte.
„Commander Sisko?“, vergewisserte sie sich, obwohl seine Uniform mit den silbernen Rangabzeichen -- und nicht zuletzt auch die Tatsache, dass er sie hier erwartet hatte -- zeigten, wen sie vor sich hatte.
Der Kommandant von DS9 sah die Bajoranerin ruhig an. „Ro Laren, vermute ich. Nun gut, je eher Sie und Ihre Leute von der Station verschwunden sind, umso besser für uns alle. Der Weg zum Andockring dürfte Ihnen ja bekannt ...“
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Plötzlich fauchte ein roter Blitz quer durch den Raum, verfehlte den Commander nur knapp und traf Kira an der linken Schulter. Mit einem gurgelnden Laut brach Siskos Stellvertreterin zusammen, wobei sie Ro Laren mit sich riss.
Innerhalb weniger Sekunden war auf dem Promenadendeck die Hölle los.
Verzweifelt versuchte Ro, die bewusstlose Kira abzuschütteln, deren Gewicht sie niederdrückte und am Aufstehen hinderte.
Mit einem Fluch stieß Tahna Los die füllige Frau beiseite, die ihn just in dem Moment angestoßen und dadurch die Richtung des Energiestrahles abgelenkt hatte, als er im Begriff gewesen war, Kira zu erschießen. Obwohl er es niemals zugegeben hätte, war der ehemalige Widerstandskämpfer fast erleichtert, dass dieser Teil des Attentats Dank dieser zufälligen Behinderung von außen, fehlgeschlagen war. Tahna Los legte auf Bareil an, um wenigsten den zweiten Teil seines Auftrages zu erfüllen, da bemerkte er aus den Augenwinkeln direkt neben dem Vedek eine Bewegung.
Rayna war eine Kriegerin. Instinktiv riss sie ihren Phaser hoch und richtete seine Mündung auf den Mann, der den Schuss abgegeben hatte. Die Kolonistin betätigte den Auslöser, als ihr schlagartig bewusst wurde, welchen Fehler sie begangen hatte.
Der Energiestrahl traf die junge Maquis mitten in der Brust, sie war tot, bevor sie den Boden berührte.
Ro Laren hatte das Gefühl, eine kalte Hand würde nach ihrem Herzen greifen und von dort aus ihr Innerstes zu Eis werden lassen. Sie wollte schreien, doch kein Ton entrang sich ihrer Kehle.
Unfähig, sich zu rühren, starrte Perry auf Raynas regungslose Gestalt, versuchte zu begreifen, dass das Funkeln in den grünen Augen für immer erloschen war.
„Verdammt, gehen Sie in Deckung“, schrie Sisko, während Tahna Los seinen Phaser blitzschnell wieder auf Bareil richtete und abdrückte.
Zum dritten Mal innerhalb weniger Sekunden gleißte eine Ladung todbringender Energie über das Promenadendeck.
Im gleichen Moment drehte Perry durch. Mit einem Schrei sprang der Terraner vor, um sich über den Körper seiner Anführerin zu werfen. -- Und geriet dabei mitten in die Schusslinie.
Gerade war es Ro endlich gelungen, Kira beiseite zu schieben und sich hochzurappeln, da sah sie Perry fallen, sah wie seine blauen Augen einen ungläubigen Ausdruck annahmen.
Unbewusst registrierte die Bajoranerin, wie der Gestaltwandler seine Form veränderte, sich auf den Attentäter stürzte und ihn überwältigte, während Commander Sisko mit Hilfe einiger Sicherheitsleute seine bewusstlose Stellvertreterin und den Vedek eilig aus der Gefahrenzone schaffte, doch sie achtete nicht darauf. -- Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Perry. Ro kniete neben dem Terraner nieder. Die Bajoranerin kannte die Zeichen des nahenden Todes, sie hatte sie schon viel zu oft gesehen. Ein einziger Blick verriet ihr, dass er im Sterben lag. Sanft strich sie ihm eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn. Ro wusste nicht, ob er überhaupt erkannte, wer sich über ihn beugte, aber sie hoffte es.
„Perry“, flüsterte die Bajoranerin, brach jedoch unvermittelt ab, als sie erkannte, dass sie mit einem Toten sprach.
Ros Augen blieben trocken, schon vor vielen Jahren hatte sie das Weinen verlernt. Doch als sie jetzt aufsah, war ihr Gesicht ein einziger Ausdruck des Hasses. Und dieser richtete sich gegen den Mann, der sich wenige Meter entfernt im Griff des Sicherheitschefs wand. Wäre Odo nicht damit beschäftigt gewesen, den sich heftig wehrenden Tahna Los festzuhalten, hätte die Bajoranerin gegen die Reaktionsfähigkeit des Wandlers nicht den Hauch einer Chance gehabt. Doch im Moment war der Sicherheitschef abgelenkt.
Mit einem Schrei sprang die Bajoranerin auf. Einige schnelle Schritte, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Ro hatte ihren Phaser verloren als sie von Kira mit zu Boden gerissen worden war, doch sie brauchte keine Waffe. Tahna Los versuchte noch, auszuweichen, da hatte sie schon weit ausgeholt. Mit aller Kraft ließ Ro ihre Handkante auf den Nacken des Bajoraners prallen, der unter diesem Schlag wie dünnes Reisig brach. Da durchzuckte sie ein Gefühl der Genugtuung, das so übermächtig war, dass alles andere unwichtig wurde. Wie aus weiter Ferne hörte die Bajoranerin Commander Sisko einen Befehl rufen. Das Letzte, was Ro Laren sah, war wie einer der Sicherheitsleute seinen Phaser hob, dann wurde es schwarz um sie.
* * *
„Das ist Ihr Werk gewesen, Gul Dukat!“ Kira stand kurz davor, sich auf den Cardassianer zu stürzen, der lässig vor ihr stand und sie mit einem arroganten Lächeln musterte.
Die rechte Schulter der Bajoranerin war bandagiert, was sie indessen nicht davon abgehalten hatte, die Krankenstation zu verlassen und sich in Siskos Büro zu begeben. Dort war sie mitten in eine Unterredung zwischen ihrem Vorgesetzten und dem Befehlshaber der zweiten cardassianischen Flotte geplatzt. Letzterer schien sich köstlich über Kira und ihre Wut zu amüsieren. „Aber, aber, meine Liebe, Sie sollten sich im eigenen Interesse vor allzu vorschnellen Beschuldigungen hüten. Sonst könnten Sie womöglich gezwungen sein, sich bei mir zu entschuldigen.“
„Das werden Sie nie erleben, eher werde ich ...“
„Das reicht, Major!“, schnitt ihr Sisko das Wort ab. „Ich respektiere Ihre Gefühle, aber nach dem derzeitigen Stand der Ermittlung ist es unwahrscheinlich, dass die Cardassianer für die Geschehnisse auf dem Promenadendeck verantwortlich sind.“
„Vielleicht sollten Sie Ihre Stellvertreterin darüber aufklären, dass es sich bei dem toten Attentäter um einen bajoranischen Terroristen handelt.“ Gul Dukats Stimme klang seidenweich. „Es könnte ja sein, dass sie ihn von früheren gemeinsamen Aktionen her kennt.“
„Das glaube ich nicht!“, stieß Kira hervor. „Das ist nichts weiter als eine verdammte, cardassianische Lüge!“
Der Befehlshaber der zweiten Flotte runzelte die Stirn. „Commander Sisko, es liegt mir fern, die Art, wie Sie Ihr Kommando führen, zu kritisieren. Aber ich rate Ihnen dringend, Ihren Ersten Offizier zu etwas mehr Höflichkeit zu veranlassen. Es sei denn, Sie legen Wert darauf, dass diese Angelegenheit zu einem diplomatischen Zwischenfall eskaliert.“
„Wenn ich Sie wäre, Gul Dukat, würde ich mir lieber Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen Ihr Angriff auf diese Station nach sich ziehen wird“, entgegnete Sisko kühl.
„Eine Verkettung unglücklicher Zufälle“, winkte der Cardassianer ab. „Soweit ich mich entsinne, habe ich Ihnen gegenüber bereits mein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht.“
„Das mag schon sein, aber wie Sie selbst so treffend festgestellt haben, ungeachtet meiner persönlichen Anwesenheit, ist DS9 nach wie vor eine bajoranische Station. Daher schlage ich vor, dass Sie sich mit Ihrer Bitte um Verzeihung umgehend an die provisorische Regierung wenden. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, formulieren Sie Ihr Gesuch sehr höflich. Sonst könnte es passieren, dass man sich damit nicht begnügt. -- Und ich bezweifle, ob das Oberkommando besonders erfreut wäre, sich bei den Repräsentanten Bajors ganz offiziell für alle diese unglücklichen Zufälle entschuldigen zu müssen.“ Befriedigt registrierte Sisko, wie die Überheblichkeit in Gul Dukats Zügen einem Ausdruck der Beunruhigung wich.
Indessen dauerte es nur wenige Sekunden, bis der Cardassianer sich wieder in der Gewalt hatte. „Ich denke nicht, dass Sie in der Situation sind, andere auf Ihre Fehler hinzuweisen, Commander. In Anbetracht der Tatsache, dass DS9 sich unter Ihrem Kommando zum Tummelplatz für Terroristen entwickelt hat, sollte man Sie vielleicht durch jemanden ersetzen, der den Umgang mit solchen Sicherheitsprobleme etwas besser im Griff hat.“
„Ach ja“, schnappte Kira. „Ich erinnere mich an einen gewissen Präfekten, der auf seiner Station nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit dem bajoranischen Widerstand hatte.“
„Womit wir wieder beim Thema wären“, bemerkt der Befehlshaber der zweiten Flotte ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Bajoranerin entschloss sich, Gul Dukat zu ignorieren und sich stattdessen an ihren Vorgesetzten zu wenden. „Wenn die Cardassianer nicht für den Anschlag verantwortlich sind, wer ist es dann?“
Es war Sisko anzusehen, wie unbehaglich er sich fühlte. „Nun, das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es spricht Einiges dafür, dass es sich hier um eine Aktion der Khon Ma gehandelt hat.“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“
„Weil der Attentäter nachweislich dieser Organisation angehörte.“ Der Kommandant von DS9 zögerte kurz, ehe er fortfuhr: „Sein Name war Tahna Los.“
Es gelang Kira nur unzureichend, ihren Schock zu verbergen. „Das ist unmöglich! Tahna Los befindet sich ...“
Ein warnender Blick ihres Vorgesetzten, veranlasste sie, ihren Satz nicht zu beenden.
In Siskos dunklen Augen las die Bajoranerin, dass er denselben Verdacht hegte. Tahna Los war nach seiner Verurteilung vor zwei Jahren in ein Hochsicherheitsgefängnis eingeliefert worden. Von dort konnte niemand entkommen. -- Es sei denn mit Hilfe der einzigen Person auf Bajor, deren bloßes Wort allein genügte, um jede Kerkertür zu öffnen. -- Und die einen Grund hatte, Bareil und ihr den Tod zu wünschen, weil sie die einzigen waren, die wussten, wer hinter dem Anschlag auf das Leben des Vedeks gesteckt hatte. Aber Tahna Los war tot, und damit zugleich auch der einzige Zeuge, der ihre Vermutung hätte bestätigen können. Es war sinnlos, Anschuldigungen zu erheben, für die es keine Beweise gab. Aber was noch weitaus schwerer wog, Bajor konnte es sich derzeit nicht leisten, seine politische Glaubwürdigkeit dadurch zu verlieren, dass einer seiner wichtigsten Repräsentanten mit einem Terroranschlag in Verbindung gebracht wurde. Bajors Ansehen musste um jeden Preis geschützt werden. Daher durfte sie Gul Dukat keinerlei Anlass geben, dieselbe Schlussfolgerung zu ziehen, wie sie.
Siskos Reaktion bewies, dass er derselben Ansicht war. „Sie haben mir noch immer nicht verraten, wieso Sie eigentlich hergekommen sind“, sagte der Kommandant von DS9 schnell, als er das nachdenkliche Stirnrunzeln des Cardassianers bemerkte.
„Tatsächlich nicht?“ Gul Dukats Tonfall verriet, dass er sich durchaus bewusst war, dass man ihm etwas verheimlichte, jedoch bereit war, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Im Geist formulierte Sisko bereits eine Stellungnahme, die geeignet war, die provisorische Regierung zu veranlassen, die Entschuldigung des Befehlshabers der zweiten Flotte als ausreichend zu akzeptieren. Er kannte den ehemaligen Präfekten lange genug, um zu wissen, dass der Cardassianer nichts zu verschenken pflegte.
„Nun, Commander“, fuhr Gul Dukat inzwischen fort. „Der Grund für meinen Besuch dürfte doch wohl auf der Hand liegen. Es geht um diese gefangene Maquis, Ro Laren, die zurzeit auf Ihrer Krankenstation behandelt wird. Mir liegen Beweise vor, dass sie in den vergangenen drei Monaten an verschiedenen Terrorakten gegen die cardassianische Zivilbevölkerung in der entmilitarisierten Zone beteiligt war. Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass sie für diese Verbrechen sühnen muss, oder?“
Sisko rang sich ein Nicken ab, froh, dass seine Stellvertreterin sich darauf beschränkte, dem Baseball auf seinem Schreibtisch ein nie zuvor gezeigtes Interesse zu bekunden. Gul Dukat ignorierte Kiras Schweigen und der Kommandant von DS9 fügte in Gedanken seiner Stellungnahme noch den einen oder anderen Satz hinzu.
„Ich versichere Ihnen, dass Ro Laren vor Gericht gestellt wird. Ob vor ein bajoranisches oder vor eines der Föderation, hängt von der provisorischen Regierung ab.“
„Das will ich nicht bezweifeln“, sagte der Cardassianer glatt. „Allerdings wage ich zu bezweifeln, ob eines dieser Gerichte geeignet ist, in dieser Sache ein gerechtes Urteil zu fällen.“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Sisko alarmiert.
„Aber das ist doch ganz einfach, Commander. Ich bin hier, um im Namen meiner Regierung die unverzügliche Auslieferung der Terroristin Ro Laren zu verlangen.“
* * *
Das erste, was Ro registrierte, als sie wieder zu sich kam, war der typische Geruch, der jeder Krankenstation in diesem Universum anhaftete. Dann vernahm sie zwei Stimmen, die sich unweit des Bettes leise unterhielten.
„Ihre Regierung hat sich tatsächlich entschlossen, sie einfach so auszuliefern, obwohl man weiß, was die Cardassianer mit ihr machen werden?“
„Die Mehrheit war der Ansicht, jemand, der sich an einem religiösen Führer vergriffen habe, verdiene weder Mitleid noch Gnade.“
„Und Vedek Bareil?“
„Er hat sich vehement für sie eingesetzt, doch was gilt sein Wort schon gegen das der Kai!“
„Und weshalb kommen Sie zu mir?“
„Weil Sie der Einzige sind, der uns helfen kann. Sobald sie sich in der Arrestzelle befindet, ist eine Flucht unmöglich. Aber die Krankenstation wird nicht bewacht. Alles, was Sie tun müssten, ist, im richtigen Moment den Kopf in die andere Richtung zu drehen.“
„Wissen Sie überhaupt, was Sie da von mir verlangen?“
„Ja, und falls Sie ablehnen, dann werde ich das akzeptieren. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie cardassianische Folterknechte ihre Opfer zu quälen pflegen, dann ...“
„Schon gut, ich habe verstanden. Wenn ich mich weigere, verurteile ich sie zu einem schrecklichen Tod. Offenbar bleibt mir keine andere Wahl.“
Ganz langsam sickerte die Erkenntnis in Ro Larens Bewusstsein, dass das Gespräch sich um sie und ihr Schicksal drehte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf.
Major Kira und Julian Bashir fuhren herum.
„Sie sind wach!“, stellte der Arzt überflüssigerweise fest.
Die Bajoranerin nickte. „Schon seit einer ganzen Weile.“
Ro zögerte. Tief in ihr gab es einen Teil, der glauben wollte, was sie gerade gehört hatte. Doch welchen Grund sollten der Arzt und diese Bajoranerin da haben, ausgerechnet sie zu retten?
„Sie können uns vertrau...“, begann Julian, bevor ihn ein Blick der Major zum Verstummen brachte.
Kira kannte den Ausdruck in Ros Augen nur zu gut. Wer jedem mit Misstrauen begegnete, dessen Seele konnte nicht verletzt werden -- und darüber hinaus lebte er länger. Wahrscheinlich gab es kaum einen Bajoraner, der diese Lektion in den langen Jahren der Besatzung nicht gelernt hatte.
„Es ist nicht wichtig, ob Sie uns vertrauen -- solange Sie uns nur mehr vertrauen als dem cardassianischen Sinn für Gerechtigkeit.“
Diese ruhigen Worte überzeugten die andere Bajoranerin mehr als es jede noch so leidenschaftliche Beteuerung Bashirs je getan hätte.
„Sie haben also wirklich die Absicht, mich fliehen zu lassen. Aber warum?“
„Weil niemand es verdient, den Cardassianern lebend in die Hände zu fallen“, antwortete der Major knapp.
„Aber meinetwegen wären Sie beinahe getötet worden!“ Noch immer war Ro von der so unerwarteten Aussicht einer Rettung wie betäubt.
-- verdiente sie es überhaupt, vom Schicksal verschont zu werden? --
Sie hatte die Propheten beleidigt, indem sie die Person eines Vedeks missachtete.
-- aber hatte er sich nicht für sie verwendet, ihr vergeben? --
Infolge ihres Verrats waren Rayna und Perry einen völlig sinnlosen Tod gestorben.
-- aber hatte sie denn eine Wahl gehabt? --
Sie fühlte Kiras Blick auf sich ruhen. Der Vedek hatte gesagt, jeder müsse den Weg gehen, der ihm vorbestimmt wäre. Wenn die Propheten ihr diese Möglichkeit gaben zu entkommen, konnte das nur bedeuten, dass ihr Weg das Leben war. -- Und sie wollte verdammt sein, wenn sie nicht bereit war, ihn zu gehen, ganz gleich wohin er führen mochte.
Die Bajoranerin verbannte ihre Schuldgefühle in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins und konzentrierte sich mit aller Kraft auf das hier und jetzt.
„Wie wollen Sie meine Flucht bewerkstelligen? Ich bin sicher, dass sämtliche Luftschleusen bewacht und alle abfliegenden Schiffe kontrolliert werden.“
Der Major nickte. „Mit einer Ausnahme. In ungefähr einer halben Stunde wird hier auf der Station ein Schiff eintreffen, um Vedek Bareil zurück nach Bajor zu bringen. Die ehrenwehrte Kai hat darauf bestanden, ihren eigenen Kreuzer zu schicken.“
‘Ein geschickter Schachzug, um jegliche Gerüchte über eine Verbindung zu Tahna Los von vornherein im Keim zu ersticken’, fügte sie in Gedanken hinzu.
Laut fuhr sie fort: „Niemand wird es wagen, ein Schiff zu durchsuchen, das Winns Hoheitszeichen trägt, auch die Cardassianer nicht.“
„Aber wie gelange ich an Bord?“
„Vedek Bareil wird Sie als einen der Prylaren des hiesigen Tempels ausgeben, der ihn auf eigenen Wunsch nach Bajor begleitet.“
„Vedek Bareil will mich durch die Kontrollen schmuggeln?“, fragte Ro ungläubig.
„Er ließ sich nicht davon abbringen. Immerhin ist das Ganze ja auch seine Idee gewesen.“ Man musste Kira nicht genau kennen, um ihrem Tonfall zu entnehmen, was sie mit dem Geistlichen verband. Das Glück in ihrer Stimme rief Ro ein jungenhaftes Lächeln ins Gedächtnis, blaue Augen, deren klarer Blick bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien.
-- ich würde alles für dich tun, Laren --
Gewaltsam riss die Bajoranerin sich aus ihren Erinnerungen. Irgendwann einmal würde sie vielleicht stark genug sein, sich ihnen -- und dem Schmerz -- zu stellen. Doch das musste warten, bis sie in Sicherheit war.
* * *
Ro Laren musste sämtliche Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zu rennen. Sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass jeder wusste, wer sich hinter der schlichten Mönchkutte verbarg. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen zwang die Bajoranerin sich zu einem Tempo, von dem sie hoffte, dass es einem Prylaren angemessen war. Sie hatte den Andockring fast erreicht, als sie plötzlich mit einem Mann zusammenstieß, der offenbar gerade aus einem Seitengang gekommen war. Mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung wollte die Bajoranerin ihren Weg fortsetzen, wurde daran jedoch durch eine Hand gehindert, die sich um ihren rechten Oberarm legte.
„Na sowas, wenn das nicht Ro Laren ist. Ich muss schon sagen, meine Liebe, Sie haben es sehr eilig, uns zu verlassen. -- Und dafür zu sorgen, dass Major Kira und ihr Vedek und nicht zu vergessen natürlich auch der gute Doktor, in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.“
Der Klang dieser sanften, dunklen Stimme, ließ die Bajoranerin zusammenzucken. Entsetzt sah sie auf und erstarrte als sie direkt vor sich Garaks unbewegte Miene erblickte.
* * *
„Was soll das heißen, sie ist weg?“ Gul Dukat maß den Arzt mit einem mörderischen Blick.
Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Julian Bashir sich annähernd vorstellen, was ein bajoranischer Arbeiter empfunden haben mochte, der in den Fokus dieses Zornes geraten war. Eine Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte. Instinktiv wich der Mediziner einige Schritte zurück, froh darüber, eine Sternenflottenuniform zu tragen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fuhr Julians rechte Hand über seinen Nasenrücken, wie um sich zu vergewissern, dass es da keine Rippen gab, dass er nicht versehentlich doch ein bajoranischer Arbeiter und das hier gar nicht DS9, sondern Terok Nor war.
Ro Laren hatte die Krankenstation kaum verlassen, als der ehemalige Präfekt zusammen mit zwei Wachen aufgetaucht war, um die Gefangene in Empfang zu nehmen. Vedek Bareils Plan basierte darauf, dass die provisorische Regierung die Entscheidung über das Auslieferungsgesuch nicht vor dem nächsten Morgen offiziell bekanntgeben würde. Offenbar hatte es da jemand ausgesprochen eilig gehabt und nun bestand die Gefahr, dass alles umsonst gewesen war.
Im Geist ging Bashir den Weg von der Krankenstation zum Andockring nach. Selbst wenn sie durch die Gänge gerannt sein sollte, konnte Ro unmöglich schon an Bord des Schiffes sein.
Der Kommandant der zweiten Flotte schickte die Soldaten mit dem Befehl, die Bajoranerin zu suchen und, wenn möglich, lebend zu fangen, hinaus und wandte sich dann wieder an den Arzt. „Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie damit nichts zu tun haben.“ Gul Dukats Stimme klang fast unbeteiligt, was sie nur umso bedrohlicher machte. „Sobald wir diese Terroristin haben, wird sie mir erzählen, wer ihr zur Flucht verhelfen wollte. Und ich bin sicher, dass es ziemlich unerfreuliche Folgen für Ihre Karriere bei der Sternenflotte hätte, wenn dabei Ihr Name fallen sollte.“ Der Cardassianer machte eine kleine Pause. „Sofern Sie sich allerdings entschließen würden, uns bei der Suche nach dieser Verbrecherin zu unterstützen, wäre ich im Gegenzug bereit, die Rolle, die Sie bei dieser Angelegenheit gespielt haben, zu vergessen. Alles was ich verlange, ist, dass Sie mir verraten, zu welchem Schiff sie will.“
„Es tut mir leid“, erwiderte Julian fest. „Wie ich bereits erwähnte, ich weiß von nichts. Von einem Moment auf den anderen war sie plötzlich verschwunden. Ich wollte gerade Commander Sisko informieren, da sind Sie hier auch schon hereingeplatzt.“
„Wie Sie wollen. Wir werden auch so herausfinden, was ihr Ziel ist.“
„Vermutlich war es einer der kleinen Frachter am Andockring eins.“
Gul Dukat und der Arzt fuhren gleichzeitig zu dem Mann herum, der lautlos die Krankenstation betreten hatte.
„Garak!“ Der Kommandant der zweiten Flotte sprach den Namen wie eine Beleidigung aus.
„Was meinen Sie mit war?“, fragte Julian entsetzt.
„Genau das, was ich gesagt habe, Doktor“, erklärte Garak so gelassen, als würde er über die neueste Mode plaudern. „Ro Laren ist tot, ich selbst habe sie vor wenigen Minuten erschossen, oder besser ausgedrückt, in Rauch aufgelöst. Mein Phaser war wohl etwas zu hoch eingestellt. Wirklich bedauerlich, sie war wirklich hübsch, und noch so jung.“
* * *
Von dieser Ecke aus konnte man die ganze Bar einsehen, doch die beiden Männer, die dort an einem der kleinen Nischentische saßen, achteten nicht auf das bunte Treiben rund um die Theke und die Dabo-Tische. Garak brach als erster das Schweigen. „Wie hat Sie es aufgenommen? Ich darf doch annehmen, dass Sie es ihr nicht verheimlicht haben, oder?“
„Nein“, erwiderte Julian Bashir. „Das habe ich nicht und an Ihrer Stelle würde ich mich darauf einrichten, dass sie Ihrem Geschäft in nächster Zeit einen Besuch abstattet.“
Der Cardassianer verzog keine Miene. „Major Kira reagiert bisweilen recht emotional. Nun ja, vielleicht kann ich sie bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, sich von mir einige vorteilhaftere Kleider machen zu lassen.“
„Bitte sehr, zwei Portionen Hasperat und eine Flasche Tarrak-Wein, den besten, den die Bar zu bieten hat“, mit einem diensteifrigen Lächeln stellte Quark das vollbeladene Tablett ab.
„Sie irren sich“, widersprach Bashir. „Wir hatten keinen Tarrak-Wein bestellt.“
Der Ferengi kratzte sich mit einer fast verlegen wirkenden Geste am Ohr. „Die geht auf das Haus. Betrachten Sie es als Zeichen meiner Wertschätzung und Dankbarkeit.“
Garak hob eine Augenbraue. „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen einen Gefallen erwiesen zu haben, Sie Doktor?“
„Nein, und ich finde diese Großzügigkeit mehr als verdächtig.“
„Es gibt keinen Grund, mich zu beleidigen“, stieß Quark ehrlich empört hervor. „Nur weil ich es für meine Pflicht halte, Ihnen dafür zu danken, dass Sie das Problem mit dieser Ro Laren gelöst haben. Polizeiliche Nachforschungen schrecken Kunden ab und das ist schlecht fürs Geschäft. Nach einer Toten wird notwendigerweise nicht mehr gesucht. Warum auch? Und genau da liegt der Vorteil des Ganzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Damit drehte er sich um und verschwand wieder in Richtung Theke.
Kopfschüttelnd sah Bashir ihm nach, dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit erneut seinem Gegenüber zu. „Offen gestanden hat es mich erstaunt, dass Sie Hasperat bestellt haben. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich etwas aus der bajoranischen Küche machen.“
„Für gewöhnlich tue ich das auch nicht, aber mit Hasperat ist das etwas anderes. Allerdings haben Sie recht, es ist in der Tat schon sehr lange her ist, dass ich welches gegessen habe. Ich hatte fast vergessen, wie würzig und pikant es schmeckt, obwohl sich das Synthetisierte hier natürlich in keinster Weise mit dem vergleichen lässt, das ich vor vielen Jahren auf Bajor zu genießen pflegte.“
„Ich wusste gar nicht, dass Sie während der Besatzung auf Bajor gewesen sind.“
„Es gibt Einiges, das Sie nicht von mir wissen, Doktor.“ Der Cardassianer zögerte. „Damals kannte ich jemanden, der sich wie kein anderer auf die Zubereitung dieses Gerichtes verstand“, fuhr er fort, während der Blick seiner dunklen Augen sich in imaginäre Ferne zu richten schien. „Er machte das mit Abstand stärkste Hasperat, das ich jemals probiert habe. Verglichen damit schmeckt alles andere mild.“
„Und er war Bajoraner.“
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, trotzdem nickte Garak. „Ja, überrascht Sie das? Ich begegnete ihm in dem Flüchtlingslager, in dem ich damals stationiert war. Er trat dort als eine Art offizieller Verbindungsmann zwischen den bajoranischen Insassen und der cardassianischen Lagerverwaltung auf.“
„Sie waren in einem Flüchtlingslager stationiert?“ Julians Verblüffung wuchs.
„Ja, aber das ist wie gesagt schon sehr lange her. Ich war damals noch sehr jung, jedenfalls für den Posten eines stellvertretenden Lagerkommandanten. Aber ich stammte aus einer sehr reichen und sehr mächtigen Familie. Infolge eines verhängnisvollen Unfalles in seiner Jugend war meinem Vater die ersehnte militärische Karriere versagt geblieben und er hoffte, sein Sohn werde nun an seiner Stelle dieses Ziel erreichen. Er scheute weder Mühen noch Kosten, um mir eine Ausbildung zukommen zu lassen, die alles übertraf, was für die Offizierslaufbahn normalerweise üblich und erforderlich war. Ich lernte, wie man kämpfte und Kriege führte, doch ich tat es nur, um meinen Vater nicht zu enttäuschen. Insgeheim hasste ich die Armee mit ihrer starren Hierarchie. Ich hatte meine eigenen Vorstellungen über den Aufbau eines idealen Staatswesens -- und den Umgang mit unterworfenen Völkern. Daher suchte ich gleich am ersten Abend, kaum dass ich im Lager angekommen war, diesen Verbindungsmann in seiner Hütte auf, um mir seine Klagen und Vorschläge anzuhören.“
Der Cardassianer zögerte erneut, ehe er fortfuhr: „An diesem Abend habe ich das erste Mal Hasperat gegessen. -- Und mich dabei ertappt, ruhig dazusitzen, während ein Bajoraner die Politik meiner Regierung ganz offen kritisierte. Eine völlig neue Erfahrung für einen cardassianischen Offizier. Von da an verbrachte ich immer mehr Zeit in der baufälligen Behausung dieses Mannes. Schon bald begannen meine Untergebenen sich heimlich darüber lustig zu machen, doch das war mir ebenso gleich wie die Ermahnungen meines Vorgesetzten. Mir gefielen diese Abende und die schier endlosen Diskussionen, die wir führten. Einmal fragte ich ihn, ob er keine Angst habe, sich in meiner Gegenwart negativ über Cardassia zu äußern, doch er lachte nur und meinte, dass jeder den Weg zu gehen habe, den die Propheten ihm bestimmt hätten. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Er hat sogar versucht, mir Belaklavion beizubringen.“
„Belaklavion?“
„Ein altes, bajoranisches Instrument, von dem es heißt, seine Musik hätte magische Kräfte, die böse Geister vertreiben könnten, aber das ist natürlich Unsinn. Er war ein ausgezeichneter Spieler, doch ein sehr schlechter Lehrer. Oder besser ausgedrückt, er hatte einen miserablen Schüler.“
„Sie müssen ihn wirklich gemocht haben.“
Ein Schatten glitt über Garaks Züge. „Ja, das habe ich. Und ich vertraute ihm -- bis ich durch Zufall herausfand, dass er heimlich mit bajoranischen Rebellen in Verbindung stand. Mehr noch, er selbst gehörte zu den Anführern einer kleineren Widerstandsbewegung und hatte mich nur benutzt, um Informationen über das Lager zu erhalten. -- Jedenfalls war ich damals davon überzeugt.“
„Und was haben Sie getan?“, fragte Bashir mit angehaltenem Atem.
„Ich denke nicht, dass Sie das wirklich wissen wollen, Doktor.“
Im Kasino war es warm, trotzdem fröstelte Julian plötzlich. Der Cardassianer hatte recht, er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als das Thema zu wechseln. Doch da war etwas in Garaks Augen, das dem Arzt verriet, dass der Cardassianer zum ersten Mal ehrlich bereit war, ihm eines seiner dunklen Geheimnisse zu offenbaren. -- Mehr noch, der junge Offizier glaubte, darin das Verlangen zu entdecken, sich einem anderen anzuvertrauen.
„Doch, das will ich“, sagte er daher tapfer.
„Nun, wenn Sie darauf bestehen.“ Wieder dieser Blick, der durch Julian hindurch in irgendwelche Fernen zu gehen schien, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, zu Ereignissen, die lange zurücklagen.
„Der Kommandant des Lagers hatte vollstes Verständnis für meinen Zorn. Er war so großzügig, mir für das Verhör und bei der Bestimmung einer angemessenen Strafe völlig freie Hand zu lassen. Ich möchte Ihnen nicht den Appetit verderben, indem ich mich mit Details aufhalte. Nur so viel, die Exekution dieses Bajoraners hat lange gedauert -- sehr lange. Am Schluss flehte er mich auf den Knien an, ihn endlich zu töten. Als ich es dann schließlich tat, da sah er mich aus seinen dunklen Augen an und lächelte. -- Er lächelte, Doktor. Dann flüsterte er einige bajoranische Worte, die ich nicht verstand. Erst viele Jahre später habe ich ihre Bedeutung erfahren. Sterbend nannte er mich seinen Freund und bat die Propheten, mir zu vergeben. Seit diesem Tag habe ich nie wieder Hasperat gegessen.“
„Aber heute Abend haben Sie es bestellt.“
„Um Ihre unausgesprochene Frage zu beantworten, Doktor, manchmal tut man Dinge, ohne dass es dafür einen besonderen Grund gibt.“
Bashir musterte die Miene des Cardassianers, die wieder so undurchdringlich war wie der Arzt es gewohnt war. Für einen kurzen Augenblick hatte Garak einen der zahllosen Schleier gelüftet, die ihn und seine Vergangenheit einhüllten, doch nun war der Moment vorbei. Julian nahm es hin, wohlwissend, dass es sinnlos wäre, den Cardassianer um Antworten zu bitten, die dieser nicht zu geben bereit war.
Letztendlich spielte es auch keine Rolle. Der Arzt war sicher, dass es wieder Augenblicke wie diesen geben würde. Garak würde auch in Zukunft damit fortfahren, hier und da eines seiner vielen Geheimnisse zu offenbaren. Irgendwann einmal würden sich all die kleinen Mosaikteile zu einem Bild zusammenfügen -- und bis dahin würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben als seine Neugier zu bezähmen und sich in Geduld zu üben.
* * *
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne tauchten die weißgetünchten Mauern des kleinen Klosters in ein rotgoldenes Licht. Sie fielen durch die hohen Fenster in die kuppelförmige Gebetshalle und auf die Gestalt einer jungen Frau, die dort allein kniete. Sie trug ein einfaches, wollenes Gewand und hielt den Kopf gesenkt, so dass ihr offenes, halblanges Haar wie ein dunkler Schleier herabfiel. So tief war sie in ihre Meditation versunken, dass sie den alten Vedek erst bemerkte, als er bereits dicht vor ihr stand.
„Ich bin Vedek Seranus, der Vorsteher dieses Ordens. Vedek Bareil sagte mir, du seist auf der Suche nach Frieden.“ Seine Stimme klang warm und gütig, doch sie brachte keine Antwort heraus und begnügte sich mit einem stummen Nicken. Langsam streckte er die rechte Hand aus und als sie instinktiv vor der Berührung ihres Ohrläppchens zurückschreckte, glitt ein Ausdruck tiefsten Mitgefühls über seine Züge.
„Bitte vergebt mir“, hauchte sie. „Aber ich kann Euch mein Pagh nicht offenbaren.“
„Ich werde dich nicht dazu zwingen“, erwiderte er sanft. „Eines Tages wirst du bereit sein. Die Propheten werden warten. Bis dahin kannst du hier im Kloster leben.“
„Ihr erlaubt mir wirklich, an diesem geheiligten Ort zu bleiben?“
„Natürlich, was sollte dagegen sprechen?“
„Aber Ihr wisst nichts von mir. Ich verdiene es nicht, hier zu sein. Ich habe meine Freunde verraten. Sie vertrauten mir und ich habe sie im Stich gelassen. Es ist meine Schuld, dass sie nun tot sind und ihr Blut ist nicht das einzige, das an meinen Händen klebt.“
Sie hatte den Kopf gehoben und sah ihn nun aus großen, dunklen Augen an, in denen Verzweiflung lag.
„Das Leben ist ewig, die Schuld ist vergänglich. Wenn du wirklich bereust, werden dir die Propheten vergeben, was immer du auch getan hast.“
„Aber das ist es ja“, brach es aus ihr heraus. „Ich kann das Geschehene nicht bereuen, ich darf es nicht. Denn vor die Wahl gestellt würde ich die gleiche Entscheidung wieder treffen. Nun sagt selbst, ehrwürdiger Vedek, wie soll ich je von den Propheten Verzeihung erlangen?“
„Darauf kannst nur du eine Antwort finden.“ Der alte Vedek zögerte kurz. „Zunächst musst du versuchen, dir selbst zu vergeben. Nicht die vergossenen, die ungeweinten Tränen sind die, die unsere Seelen quälen. Wenn man den Schmerz besiegen will, dann muss man sich ihm stellen, anstatt ihn zu verdrängen.“
„Mein ganzes Leben lang habe ich immer nur gekämpft“, flüsterte sie tonlos. „Ich dachte, ich wäre stark genug, um mit allem fertigzuwerden, doch nun fühle ich mich unendlich schwach und leer. Wie soll ich es da schaffen, den richtigen Weg zu finden?“
Ein gütiges Lächeln glitt über seine Züge. „Hab Vertrauen in die Propheten. Mit ihrer Hilfe wird es dir gelingen. Ich werde dich nun wieder deiner Meditation überlassen.“ Damit wandte er sich ab und machte Anstalten, die Gebetshalle zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und warf der jungen Frau, die nach wie vor regungslos an der gleichen Stelle kniete, einen langen Blick zu. „Du bist noch nicht bereit, dein Pagh erforschen zu lassen und ich respektiere deinen Wunsch. Doch ich würde mich freuen, wenigstens deinen Namen zu erfahren.“
„Hat Vedek Bareil ihn Euch nicht genannt?“
„Nein, er hielt es für besser, dir die Entscheidung zu überlassen. Natürlich ist es keine Bedingung für deinen Aufenthalt hier, aber ich denke, es wäre ein erster Schritt auf dem richtigen Weg.“
Sie zögerte kurz, dann atmete sie tief durch. „Mein Name ist Ro“, sagte sie leise. „Ro Laren.“
ENDE
Auf der OPS herrschte das totale Chaos. Mehrere Kontrollen waren ausgefallen. Überall hingen verschmorte Kabel. Zusammen mit Odo und einigen Sicherheitsleuten war Chief O’Brien mit der Löschung eines größeren Brandes beschäftigt, der unmittelbar neben dem Turbolift ausgebrochen war. Verwundete stöhnten und das herbeigerufene Medoteam hatte alle Hände voll zu tun.
Obwohl die Berichte der einzelnen Abteilungen noch nicht eingegangen waren, bestand für Commander Sisko kein Zweifel daran, dass die Lage in den übrigen Teilen der Station ebenso kritisch war. Woher Gul Dukat so genau wusste, wann das Ultimatum der Maquis ablaufen würde und wer von den Geiseln dann als erster sterben sollte, würde er wohl nie erfahren. Jedenfalls hatte der Befehlshaber der zweiten cardassianischen Flotte, kaum dass die von Rayna gewährte Stunde vergangen war, ein persönliches Gespräch mit Garak verlangt und ihm genau 15 Minuten Zeit gegeben, dasselbe zu arrangieren. Die Maquis hatten auf keinen seiner Rufe reagiert und mit Verstreichen der Frist hatten Gul Dukats Schiffe gleichzeitig das Feuer eröffnet.
Bereits die ersten Treffer hatten die Energie der Schilde um 40% verringert und jetzt, nach der zweiten Angriffswelle war ihre Stärke auf lediglich 20% gesunken. Weiteren Treffern würden sie nicht mehr lange standhalten können.
Bisher hatte er vermieden, das Feuer zu erwidern, wohlwissend, dass es kein Zurück mehr gab, wenn sie sich erst einmal auf ein Gefecht mit den Cardassianern eingelassen hatten. Dann würde ein Krieg endgültig nicht mehr zu verhindern sein.
-- doch jetzt hatte er keine andere Wahl mehr --
Noch einige solche Treffer und die Station würde auseinanderbrechen.
-- er wäre ohne zu zögern bereit gewesen, sein Leben zu opfern --
Durch den Rauch konnte er die blassen Gesichter von Dax und Lieutenant Mulligan sehen.
-- aber er trug die Verantwortung für alle hier --
Mittlerweile verfügte DS9 über eine Bewaffnung, die es durchaus mit mehreren cardassianischen Kriegsschiffen aufnehmen konnte. Den angespannten Zügen des Fähnrichs, der die Waffenkontrollen bediente, war zu entnehmen, dass er nur auf den entsprechenden Befehl wartete und nicht begriff, wieso sein kommandierender Offizier bislang noch zögerte, diesen zu erteilen.
Sisko holte tief Luft. „Mr. Byron, Phaser und Photonentorpedos klar zum ...“
Plötzlich hallte eine Stimme über die OPS:
„Hier spricht Ro Laren von den Maquis. Und ich rufe Commander Sisko.“
Die Hand des Sternenflottenoffiziers flog zum Kommunikator. „Hier Sisko. Falls Garak noch am Leben sein sollte, dann geben Sie ihn mir, schnell! -- Verdammt, machen Sie schon, oder wir alle werden sterben!“
Einige Sekunden der Stille folgten, die dem Kommandanten von DS9 wie Stunden vorkamen. Dann erklang die dunkle Stimme des Cardassianers : „Sie wollten mit mir reden, Commander.“
Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchflutete Sisko. „Garak, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Sie zu hören!“
„Ich denke doch, Commander, aber wir sollten unsere Freudenfeier auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Für den Moment schlage ich vor, dass Sie mich unverzüglich mit Dukat verbinden. Schließlich müssen wir den guten Gul davon abhalten, in seinem übereifrigen Bestreben, meinen vermeintlichen Tod zu rächen, die Station zu zerstören.“
Erstaunt registrierte Sisko den ungewohnt autoritären Tonfall Garaks. Doch für irgendwelche Überlegungen war jetzt keine Zeit.
Gerade wurde die Station von weiteren Treffern erschüttert. Von einem Moment auf den anderen erlosch die Beleuchtung. Jetzt wurde die OPS nur noch von den blinkenden Lichtern der letzten intakten Anzeigen erhellt. Ein schriller Warnton zeigte an, dass die Schutzschilde endgültig zusammengebrochen waren. Wenn es ihnen nicht gelang, den Angriff aufzuhalten, würde die nächste Salve vermutlich ihr Ende bedeuten.
„Lieutenant Dax, einen Kanal zum cardassianischen Flaggschiff öffnen!“ Sisko schickte ein stummes Gebet zum Himmel, dass das Kommunikationssystem noch funktionierte.
„Ich empfehle eine Simultanschaltung zu den anderen beiden Kommandanten, Benjamin“, schlug die Trill so ruhig vor, als befände sie sich nicht mitten im Zentrum der totalen Zerstörung. „Der Umstand, dass Garak nicht tot ist, wird die Pläne des Oberkommandos durchkreuzen“, fuhr Jadzia fort, während sie ihre Konsole von herabgefallenen Kabeln befreite. „Allerdings nur sofern diese Tatsache auch bekannt wird. Gul Dukat könnte auf die Idee kommen, dass mit der Vernichtung von DS9 auch sämtliche Beweise dafür verschwinden. -- Ganz abgesehen davon, dass er Garak hasst und ihn auf diese Weise elegant loswerden würde.“
Sisko nickte zustimmend. „Einverstanden.“
Die Finger der Trill schoben das letzte störende Kabel beiseite, dann glitten sie hastig über einige Tasten, worauf die Schwärze des Bildschirms den Gesichtern Gul Dukats und zweier weiterer Cardassianer wich.
Der ehemalige Präfekt lächelte herablassend. „Darf ich annehmen, dass Sie vorhaben, sich zu ergeben?“
„Keineswegs“, entgegnete Sisko kühl. „Aber hier ist jemand, der Sie gerne sprechen möchte.“
* * *
Der Mann lehnte an einem der zahlreichen Panoramafenster von DS9 und starrte nachdenklich in die Tiefen des Weltalls. Er trug die einfache Kleidung eines Prylaren. Einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass er einen Ohrring trug, der diesem Rang in der Hierarchie eines bajoranischen Ordens nicht entsprach, doch inmitten des Chaos, das seit Beginn des cardassianischen Angriffs überall auf der Station herrschte, nahm niemand von ihm Notiz. Jetzt drehte sich der Mann um und beobachtete voller Verachtung, wie Bajoraner, Menschen und andere Humanoide schreiend an ihm vorbei rannten, offenbar von dem einzigen Wunsch beseelt, sich vor diversen Bränden und herabfallenden Trümmern in Sicherheit zu bringen.
Tahna Los hatte sich noch nie vor dem Tod gefürchtet, doch er bedauerte, derart sinnlos zu sterben. Zumindest musste er sich um die Erfüllung seines Auftrages dann keine Sorgen mehr machen. Mochte dieser Bareil sich durch seine offene Unterstützung der Föderation auch gegen bajoranische Interessen gestellt haben, hatte ihn, die Vorstellung, einen Vedek umzubringen doch mit Unbehagen erfüllt. -- Und soweit es Kira betraf ...
Insgeheim hatte er gehofft, dass diese Leute, in deren Hand sich die Beiden befanden, ihm die Arbeit abnehmen würden. Die Chancen dafür hatten gar nicht schlecht gestanden, auch wenn seine Auftraggeberin befürchtete, dieser Commander Sisko würde einen Weg finden, die Geiseln zu retten. Dies war auch der Grund gewesen, warum sie ihn aus dem Gefängnis geholt und nach DS9 geschickt hatte. Falls der Sternenflottenoffizier, der hier das Kommando hatte, es wider Erwarten schaffen sollte, die Maquis zu überrumpeln bevor sie Kira und Bareil erschossen hätten, sollte er die ehemalige Freiheitskämpferin und ihren geistlichen Geliebten ermorden -- und zwar so, dass die Schuld an ihrem Tod der Föderation angelastet werden konnte.
Tahna Los kam nicht umhin, die Raffiniertheit dieses Planes zu bewundern -- und die Frau, die ihn ersonnen hatte. Mittlerweile war er ziemlich sicher, um wen es sich bei der Unbekannten handelte, und dieses Wissen ließ sie in seiner Achtung nur noch mehr steigen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, nach dieser Aktion Bajor, dem es gleich gewesen war, was aus ihm wurde, den Rücken zu kehren. Doch nun war dieser Entschluss ins Wanken geraten. Diese Frau und er verfolgten die gleichen Ziele, was lag also näher, als in der Heimat zu bleiben und ihre Bemühungen nach besten Kräften zu unterstützen? -- Das hieß, sofern die verfluchten Cardassianer diese Station nicht vorher zerstörten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Erschütterungen aufgehört hatten. Irgendwie musste es diesem Commander Sisko gelungen sein, einen weiteren Beschuss von DS9 zu verhindern. Vielleicht hatte seine Auftraggeberin mit ihren Befürchtungen doch recht gehabt. Wer es fertigbrachte, die Cardassianer zu stoppen, für den würde auch die Überwältigung einer Handvoll Geiselnehmer keine größere Schwierigkeit darstellen. Wie dem auch sei, mochte dieser Sternenflottencommander sich anstrengen wie er wollte, am Ende würde die Föderation doch der Verlierer sein -- dafür würde er, Tahna Los, schon sorgen.
* * *
Unter der Leitung von Chief O’Brien waren die Reparaturarbeiten auf der OPS in vollem Gange.
In seinem Büro studierte Commander Benjamin Sisko die Berichte, die nach und nach von den einzelnen Abteilungen eingingen. Zum Glück wirkten die Schäden gravierender als es tatsächlich der Fall war. Trotzdem nahm er sich vor, sobald das alles hier vorbei war, einen offiziellen Protest an die cardassianische Regierung abzufassen -- aber im Moment gab es Wichtigeres, das seine Aufmerksamkeit erforderte.
Zum ersten Mal seit Beginn dieser ganzen Sache, hatte er das Gefühl, die Situation halbwegs im Griff zu haben. Angesichts der unleugbaren Tatsache, dass Garak noch am Leben war -- und Dank der Simultanschaltung, die es ihm unmöglich gemacht hatte, dies vor den anderen cardassianischen Kommandanten zu verheimlichen, hatte Gul Dukat schließlich notgedrungen den Befehl zur Beendigung des Angriffs erteilt. Die anschließende Kommunikation mit Ro Laren hatte ergeben, dass die Bajoranerin mittlerweile dort im Kasino die Führung übernommen hatte -- und dass sie im Gegensatz zu dieser Rayna nicht auf der bisherigen Forderung der Maquis beharrte, sondern bereit war, die Geiseln im Austausch für ein schnelles Shuttle und sicheres Geleit in die entmilitarisierte Zone freizulassen. Letzteres indessen würde nicht gerade einfach werden, da die drei cardassianischen Kriegsschiffe sich nach wie vor in der Nähe der Station aufhielten, doch er hatte Ro Laren sein Wort gegeben, eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Genaugenommen hätte er als Offizier der Sternenflotte dieses Versprechen gar nicht machen dürfen. Vielmehr wäre er verpflichtet gewesen, die Maquis unter allen Umständen, notfalls auch mit Unterstützung der Cardassianer gefangen zu nehmen..
-- aber er hatte durchaus Verständnis für die verzweifelte Lage der Kolonisten und den daraus resultierenden Kampf des Maquis --
Für die Admiralität mochten diese Leute nichts weiter als Verbrecher sein, aber zahlreiche Angehörige der Sternenflotte, darunter auch einige seiner besten Freunde, waren genau wie Ro Laren desertiert und zum Maquis übergelaufen. Sie alle handelten so, weil sie fest davon überzeugt waren, nur auf diese Weise der Gerechtigkeit zum Erfolg verhelfen zu können.
-- und wenn er ehrlich war, vertrat er ebenfalls die Meinung, dass die Föderation die Zivilisten in den ehemaligen Kolonien nach der Neufestlegung der Grenze im Stich gelassen hatte --
Aus all diesen Gründen hatte der Kommandant von DS9 kein besonderes Interesse daran, dass Ro Laren und ihre Gruppe getötet wurden oder -- was zweifellos weitaus schlimmer wäre -- den Cardassianern gar lebend in die Hände fielen. Gul Dukat seinerseits würde mit Sicherheit alles unternehmen, um genau das zu erreichen. Irgendwie musste es ihm gelingen, jegliches Eingreifen von Seiten des Befehlshabers der zweiten cardassianischen Flotte auszuschließen -- und er hatte da auch schon eine Idee.
* * *
Ro Laren saß an einem der kleinen Nischentische der Bar und musste sich zwingen, die stumme Verachtung in Perrys blauen Augen nicht zu beachten. Der Blick des Terraners war eine einzige Anklage und die Botschaft, die er ihr damit vermittelte, war einfach und klar: Verräterin!
Im Gegensatz zu Perry hatte Rayna sich nicht darauf beschränkt, dieses Wort nur zu denken. Seit die Kolonistin aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie die Bajoranerin bereits mehrmals voller Zorn so bezeichnet. Vergeblich hatte Ro versucht, der jungen Maquis zu erklären, warum sie so hatte handeln müssen. Rayna war ebenso fanatisch, wie es seinerzeit die bajoranischen Freiheitskämpfer gewesen waren, die jemanden bereits dann als Überläufer brandmarkten, wenn er ihnen aus Angst um seine Familie seine Hilfe verweigerte. Nach ihrer Flucht aus dem Flüchtlingslager hatte Ro zunächst einige Wochen bei einer kleineren Widerstandsgruppe verbracht, ehe sie Bajor endgültig verließ, um bei der Sternenflotte ein neues Leben anzufangen. Während dieser Zeit war sie mehr als einmal Zeuge geworden, auf welche Weise die Rebellen solche Kollaborateure zu bestrafen pflegten. Damals hatte sie dies für Gerechtigkeit gehalten, doch mittlerweile war ihr klargeworden, dass die Grenze zwischen Recht und Unrecht nicht immer so gerade verlief wie sie früher geglaubt hatte.
Fast war die Bajoranerin dem pochenden Schmerz in ihrer linken Schulter dankbar, weil er sie daran erinnerte, dass es kein Zurück mehr gab. Nachdem Bashir wieder zu sich gekommen war, hatte er die Verletzungen von Rayna und den anderen versorgt. Der Arzt hatte sich auch um ihre Schulter kümmern wollen, war jedoch an ihrem Widerstand gescheitert. Ro wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, auch nur für wenige Sekunden abgelenkt zu sein. Rayna wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, um sie zu überrumpeln und die Bajoranerin hatte keineswegs die Absicht, ihrer ehemaligen Anführerin eine solche zu verschaffen.
Ro ließ musterte die Geiseln gleiten, die auf ihren Befehl hin in unmittelbarer Nähe an einem der Dabo-Tische saßen. Obwohl es ein nicht unerhebliches Risiko bedeutete, hatte sie allen außer Garak die Sklavenhalsbänder abgenommen. Der Cardassianer hatte bereits bewiesen, was für ein gefährlicher Gegner er war. Außerdem würde er im Gegensatz zu den anderen Gefangenen vermutlich keinerlei Hemmungen haben zu töten, wenn er sein Ziel nicht anders erreichen konnte.
Als hätte er die Gedanken der Bajoranerin erraten, drehte Garak seinen Kopf in ihre Richtung und sah sie an. In seinen dunklen Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte. -- Und plötzlich hatte sie das unerklärliche Gefühl, diesem Mann schon früher einmal begegnet zu sein. Viele Cardassianer hatten schon ihren Weg gekreuzt seit sie aus dem Flüchtlingslager entkommen war, doch die meisten hatten das Zusammentreffen nicht überlebt, und die anderen ...
Die Gesichter ihrer Gegner pflegten sich für gewöhnlich unauslöschlich in ihr Gedächtnis einzubrennen. Allerdings gab es auch in ihrem Leben Ereignisse, die sie unbewusst verdrängt hatte, weil es manchmal besser war zu vergessen ...
Ihre Versuche, sich zu erinnern, wurden durch eine Stimme unterbrochen, die durch das Kasino schallte: „Hier ist Benjamin Sisko, ich möchte mit Ro Laren sprechen.“
Die Bajoranerin verbannte alle Überlegungen in einen hinteren Winkel ihres Kopfes. Die Vergangenheit konnte warten -- die Gegenwart war wichtiger.
„Hier Ro, haben Sie das Problem mit den Cardassianern gelöst?“
„Ich hoffe es jedenfalls“, kam es zurück. „Es gibt nur einen einzigen Weg, Gul Dukat von einem Angriff auf das Shuttle abzuhalten. An Bord muss sich eine Geisel befinden -- und zwar eine, deren Tod das Oberkommando einer Handvoll Terroristen wegen nicht riskieren wird. Dieser Umstand trifft, wenn überhaupt, aber nur auf einen Angehörigen der Sternenflotte zu.“
„Schlagen Sie etwa vor, dass ich den Doktor in die entmilitarisierte Zone mitnehmen soll?“, fragte Ro erstaunt. „Soweit ich mich entsinne, war der Preis für unsere Freiheit mein Zugeständnis, alle Geiseln freizugeben, bevor wir die Station verlassen.“
„Und daran hat sich auch nichts geändert“, erwiderte der Kommandant von DS9 mit Nachdruck. „Ich habe keineswegs vor, das Leben eines anderen in Gefahr zu bringen.“
„Aber wer soll dann ...“
„Ich werde Sie begleiten.“
„Sie!“ Die Bajoranerin brauchte einige Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. „Das wollen Sie wirklich tun? Aber warum?“
„Weil ich Ihnen mein Wort gegeben habe. -- Und, wie ich gegenüber Rayna bereits erwähnte, pflege ich meine Versprechen zu halten.“
„Und wenn Gul Dukat sich auch von Ihrer Anwesenheit nicht an einer Zerstörung des Shuttles hindern lässt?“
„Nun, dann haben wir wohl alle Pech gehabt.“
Ro kam nicht umhin, den Mut dieses Mannes dort auf der anderen Seite des Kraftfeldes zu bewundern. „Offenbar sind Sie fest entschlossen, Commander. Und ich wäre ein Narr, wenn ich Ihr Angebot ablehnen würde.“
„Da haben Sie recht. Wenn Sie einverstanden sind, können wir den Austausch vornehmen, sobald Sie das Kraftfeld deaktiviert haben.“
Ro zögerte. Mehr als die Hälfte des Stationspersonals waren Landsleute von ihr. Hinzu kamen etliche bajoranische Zivilisten, die sich auf DS9 aufhielten. Sie konnte sich vorzustellen, welche Art von Gefühlen diese Leute gegenüber einer Bajoranerin und ihren Freunden hegten, die sich an einem Vedek vergriffen hatten. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die aufgebrachte Menge sie alle kurzerhand lynchen würde, noch ehe sie das Shuttle erreicht hatten. Ro bezweifelte, ob ihre Landsleute sich allein durch die Bedrohung von Siskos Leben von einem solchen Vorhaben abhalten ließen. Immerhin hatte der Kommandant von DS9 sich trotz der Gefahr für einen der geistigen Führer Bajors geweigert, die ursprünglich an ihn gerichtete Forderung zu erfüllen. -- Und wenn es um ihren Glauben ging, neigten die meisten ihrer Landsleute zu einer Form von Fanatismus, die bei der gerechten Bestrafung von Frevlern keine Rücksicht auf einen Mann nehmen würde, der sich aus ihrer Sicht seinerseits einer Beleidigung der Propheten schuldig gemacht hatte. Es gab nur einen Weg, um zu garantieren, dass es nicht soweit kam.
-- sie hatte so viel Schuld auf ihre Seele geladen, was spielte eine weitere da noch für eine Rolle? --
„Erwarten Sie mich an der Tür“, sagte Ro. „Dann werde ich alle Gefangenen mit Ausnahme Ihrer Stellvertreterin und des Vedeks in der Bar zurücklassen.“
-- mochten die Propheten sie strafen, aber die Mitnahme des Vedeks war nötig -- nur sie gewährleistete, dass diese Kira keinen Befreiungsversuch unternahm --
„Darf ich Sie daran erinnern, dass wir eine Vereinbarung haben ...“
„An die ich mich auch halten werde“, unterbrach sie ihn. „Aber wie Ihnen zweifellos bekannt sein dürfte, haben meine Landsleute ein ausgesprochen hitziges Temperament. Deshalb ziehe ich es vor, wenn die Beiden uns bis zum Shuttle begleiten. Diese Bedingung müssen Sie mir schon zugestehen.“
Für einige Sekunden herrschte Stille, während der Kommandant von DS9 offenbar das Für und wider abwägte, dann hatte er sich entschieden.
„Einverstanden, aber wenn wir an der Luftschleuse angekommen sind, werden Sie Major Kira und Vedek Bareil sofort freilassen.“
„Das werde ich, Commander. -- Ich schwöre es, bei den Propheten.“
* * *
Die Stimmung auf dem Promenadendeck glich brodelnder Lava. Commander Sisko war Odos Empfehlung, den Weg bis zum Andockring weiträumig abzusperren, nicht gefolgt, da eine solche Anordnung die Gemüter noch mehr erregt hätte. Außerdem waren die meisten Sicherheitsleute der Station selbst Bajoraner. Mit der offenen Unterstützung durch die provisorische Regierung und der Kai im Rücken, hätten sie sich wahrscheinlich ohnehin geweigert, einen solchen Befehl auszuführen.
Von seinem Platz in der Menge aus, beobachtete Tahna Los, wie der Kommandant von DS9 sich dem Spielkasino näherte und zum Kommunikator griff. Ein kurzer Wortwechsel -- dann war es soweit. Die Abschaltung des Kraftfeldes wurde von einem hellen Summen begleitet. Schlagartig wurde es totenstill. Alle Augen richteten sich auf die Tür der Bar, die sich nun langsam öffnete.
Die erste, die heraustrat, war Major Kira, dicht gefolgt von Ro, die den Arm von Siskos Stellvertreterin gepackt hatte und sie wie einen lebenden Schild vor sich her schob. In ihrer rechten Hand hielt Ro einen Phaser, dessen Mündung sie der anderen Bajoranerin in den Rücken presste. Direkt hinter den Beiden folgte Bareil. Genau wie Kira war der Vedek gefesselt und wurde von Rayna und Perry flankiert, die ebenfalls bewaffnet waren. -- Mit dem Unterschied allerdings, dass sich die Energiezellen ihrer Phaser in der Tasche von Ro Larens Jacke befanden.
Angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die ihre derzeitige Lage bot, hatte die Bajoranerin die anderen beiden Maquis ohne größere Schwierigkeiten von den Vorteilen eines vorläufigen Burgfriedens überzeugen können. Indessen bezweifelte sie, ob Rayna sich mit einer schussbereiten Waffe in der Hand noch an die mit Sisko getroffene Abmachung, die bajoranischen Geiseln an der Luftschleuse freizulassen, halten würde -- und Perry würde sich der rothaarigen Kolonistin ohne zu zögern anschließen.
-- zwing mich niemals zwischen Dir und Rayna zu wählen --
Ro Laren spürte die stumme Welle des Zornes, die ihr entgegenschlug. Sie war es gewohnt, mit der Ablehnung ihrer Umgebung fertig zu werden. Bereits auf der Sternenflottenakademie hatte ihre Weigerung, sich anzupassen, sie zur ewigen Außenseiterin verdammt und daran hatte sich auch später nichts geändert. Die Kommandanten der verschiedenen Föderationsschiffe, auf denen sie ihren Dienst versehen hatte, waren stets bestrebt gewesen, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Selbst in den Reihen der Maquis gab es etliche, die sie wegen ihrer offenen und direkten Art mieden. Aber diesmal waren es keine Fremden, sondern ihre eigenen Landsleute, die sie ihren Hass und ihre Verachtung spüren ließen und der Schmerz, den sie empfand, war kaum zu ertragen. Ro Laren zwang sich, die auf sie gerichteten, feindlichen Gefühle zu ignorieren und sich auf das einzige Gesicht zu konzentrieren, in dem sie einen winzigen Funken von Mitleid und Verständnis zu erkennen glaubte.
„Commander Sisko?“, vergewisserte sie sich, obwohl seine Uniform mit den silbernen Rangabzeichen -- und nicht zuletzt auch die Tatsache, dass er sie hier erwartet hatte -- zeigten, wen sie vor sich hatte.
Der Kommandant von DS9 sah die Bajoranerin ruhig an. „Ro Laren, vermute ich. Nun gut, je eher Sie und Ihre Leute von der Station verschwunden sind, umso besser für uns alle. Der Weg zum Andockring dürfte Ihnen ja bekannt ...“
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Plötzlich fauchte ein roter Blitz quer durch den Raum, verfehlte den Commander nur knapp und traf Kira an der linken Schulter. Mit einem gurgelnden Laut brach Siskos Stellvertreterin zusammen, wobei sie Ro Laren mit sich riss.
Innerhalb weniger Sekunden war auf dem Promenadendeck die Hölle los.
Verzweifelt versuchte Ro, die bewusstlose Kira abzuschütteln, deren Gewicht sie niederdrückte und am Aufstehen hinderte.
Mit einem Fluch stieß Tahna Los die füllige Frau beiseite, die ihn just in dem Moment angestoßen und dadurch die Richtung des Energiestrahles abgelenkt hatte, als er im Begriff gewesen war, Kira zu erschießen. Obwohl er es niemals zugegeben hätte, war der ehemalige Widerstandskämpfer fast erleichtert, dass dieser Teil des Attentats Dank dieser zufälligen Behinderung von außen, fehlgeschlagen war. Tahna Los legte auf Bareil an, um wenigsten den zweiten Teil seines Auftrages zu erfüllen, da bemerkte er aus den Augenwinkeln direkt neben dem Vedek eine Bewegung.
Rayna war eine Kriegerin. Instinktiv riss sie ihren Phaser hoch und richtete seine Mündung auf den Mann, der den Schuss abgegeben hatte. Die Kolonistin betätigte den Auslöser, als ihr schlagartig bewusst wurde, welchen Fehler sie begangen hatte.
Der Energiestrahl traf die junge Maquis mitten in der Brust, sie war tot, bevor sie den Boden berührte.
Ro Laren hatte das Gefühl, eine kalte Hand würde nach ihrem Herzen greifen und von dort aus ihr Innerstes zu Eis werden lassen. Sie wollte schreien, doch kein Ton entrang sich ihrer Kehle.
Unfähig, sich zu rühren, starrte Perry auf Raynas regungslose Gestalt, versuchte zu begreifen, dass das Funkeln in den grünen Augen für immer erloschen war.
„Verdammt, gehen Sie in Deckung“, schrie Sisko, während Tahna Los seinen Phaser blitzschnell wieder auf Bareil richtete und abdrückte.
Zum dritten Mal innerhalb weniger Sekunden gleißte eine Ladung todbringender Energie über das Promenadendeck.
Im gleichen Moment drehte Perry durch. Mit einem Schrei sprang der Terraner vor, um sich über den Körper seiner Anführerin zu werfen. -- Und geriet dabei mitten in die Schusslinie.
Gerade war es Ro endlich gelungen, Kira beiseite zu schieben und sich hochzurappeln, da sah sie Perry fallen, sah wie seine blauen Augen einen ungläubigen Ausdruck annahmen.
Unbewusst registrierte die Bajoranerin, wie der Gestaltwandler seine Form veränderte, sich auf den Attentäter stürzte und ihn überwältigte, während Commander Sisko mit Hilfe einiger Sicherheitsleute seine bewusstlose Stellvertreterin und den Vedek eilig aus der Gefahrenzone schaffte, doch sie achtete nicht darauf. -- Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Perry. Ro kniete neben dem Terraner nieder. Die Bajoranerin kannte die Zeichen des nahenden Todes, sie hatte sie schon viel zu oft gesehen. Ein einziger Blick verriet ihr, dass er im Sterben lag. Sanft strich sie ihm eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn. Ro wusste nicht, ob er überhaupt erkannte, wer sich über ihn beugte, aber sie hoffte es.
„Perry“, flüsterte die Bajoranerin, brach jedoch unvermittelt ab, als sie erkannte, dass sie mit einem Toten sprach.
Ros Augen blieben trocken, schon vor vielen Jahren hatte sie das Weinen verlernt. Doch als sie jetzt aufsah, war ihr Gesicht ein einziger Ausdruck des Hasses. Und dieser richtete sich gegen den Mann, der sich wenige Meter entfernt im Griff des Sicherheitschefs wand. Wäre Odo nicht damit beschäftigt gewesen, den sich heftig wehrenden Tahna Los festzuhalten, hätte die Bajoranerin gegen die Reaktionsfähigkeit des Wandlers nicht den Hauch einer Chance gehabt. Doch im Moment war der Sicherheitschef abgelenkt.
Mit einem Schrei sprang die Bajoranerin auf. Einige schnelle Schritte, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Ro hatte ihren Phaser verloren als sie von Kira mit zu Boden gerissen worden war, doch sie brauchte keine Waffe. Tahna Los versuchte noch, auszuweichen, da hatte sie schon weit ausgeholt. Mit aller Kraft ließ Ro ihre Handkante auf den Nacken des Bajoraners prallen, der unter diesem Schlag wie dünnes Reisig brach. Da durchzuckte sie ein Gefühl der Genugtuung, das so übermächtig war, dass alles andere unwichtig wurde. Wie aus weiter Ferne hörte die Bajoranerin Commander Sisko einen Befehl rufen. Das Letzte, was Ro Laren sah, war wie einer der Sicherheitsleute seinen Phaser hob, dann wurde es schwarz um sie.
* * *
„Das ist Ihr Werk gewesen, Gul Dukat!“ Kira stand kurz davor, sich auf den Cardassianer zu stürzen, der lässig vor ihr stand und sie mit einem arroganten Lächeln musterte.
Die rechte Schulter der Bajoranerin war bandagiert, was sie indessen nicht davon abgehalten hatte, die Krankenstation zu verlassen und sich in Siskos Büro zu begeben. Dort war sie mitten in eine Unterredung zwischen ihrem Vorgesetzten und dem Befehlshaber der zweiten cardassianischen Flotte geplatzt. Letzterer schien sich köstlich über Kira und ihre Wut zu amüsieren. „Aber, aber, meine Liebe, Sie sollten sich im eigenen Interesse vor allzu vorschnellen Beschuldigungen hüten. Sonst könnten Sie womöglich gezwungen sein, sich bei mir zu entschuldigen.“
„Das werden Sie nie erleben, eher werde ich ...“
„Das reicht, Major!“, schnitt ihr Sisko das Wort ab. „Ich respektiere Ihre Gefühle, aber nach dem derzeitigen Stand der Ermittlung ist es unwahrscheinlich, dass die Cardassianer für die Geschehnisse auf dem Promenadendeck verantwortlich sind.“
„Vielleicht sollten Sie Ihre Stellvertreterin darüber aufklären, dass es sich bei dem toten Attentäter um einen bajoranischen Terroristen handelt.“ Gul Dukats Stimme klang seidenweich. „Es könnte ja sein, dass sie ihn von früheren gemeinsamen Aktionen her kennt.“
„Das glaube ich nicht!“, stieß Kira hervor. „Das ist nichts weiter als eine verdammte, cardassianische Lüge!“
Der Befehlshaber der zweiten Flotte runzelte die Stirn. „Commander Sisko, es liegt mir fern, die Art, wie Sie Ihr Kommando führen, zu kritisieren. Aber ich rate Ihnen dringend, Ihren Ersten Offizier zu etwas mehr Höflichkeit zu veranlassen. Es sei denn, Sie legen Wert darauf, dass diese Angelegenheit zu einem diplomatischen Zwischenfall eskaliert.“
„Wenn ich Sie wäre, Gul Dukat, würde ich mir lieber Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen Ihr Angriff auf diese Station nach sich ziehen wird“, entgegnete Sisko kühl.
„Eine Verkettung unglücklicher Zufälle“, winkte der Cardassianer ab. „Soweit ich mich entsinne, habe ich Ihnen gegenüber bereits mein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht.“
„Das mag schon sein, aber wie Sie selbst so treffend festgestellt haben, ungeachtet meiner persönlichen Anwesenheit, ist DS9 nach wie vor eine bajoranische Station. Daher schlage ich vor, dass Sie sich mit Ihrer Bitte um Verzeihung umgehend an die provisorische Regierung wenden. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, formulieren Sie Ihr Gesuch sehr höflich. Sonst könnte es passieren, dass man sich damit nicht begnügt. -- Und ich bezweifle, ob das Oberkommando besonders erfreut wäre, sich bei den Repräsentanten Bajors ganz offiziell für alle diese unglücklichen Zufälle entschuldigen zu müssen.“ Befriedigt registrierte Sisko, wie die Überheblichkeit in Gul Dukats Zügen einem Ausdruck der Beunruhigung wich.
Indessen dauerte es nur wenige Sekunden, bis der Cardassianer sich wieder in der Gewalt hatte. „Ich denke nicht, dass Sie in der Situation sind, andere auf Ihre Fehler hinzuweisen, Commander. In Anbetracht der Tatsache, dass DS9 sich unter Ihrem Kommando zum Tummelplatz für Terroristen entwickelt hat, sollte man Sie vielleicht durch jemanden ersetzen, der den Umgang mit solchen Sicherheitsprobleme etwas besser im Griff hat.“
„Ach ja“, schnappte Kira. „Ich erinnere mich an einen gewissen Präfekten, der auf seiner Station nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit dem bajoranischen Widerstand hatte.“
„Womit wir wieder beim Thema wären“, bemerkt der Befehlshaber der zweiten Flotte ohne mit der Wimper zu zucken.
Die Bajoranerin entschloss sich, Gul Dukat zu ignorieren und sich stattdessen an ihren Vorgesetzten zu wenden. „Wenn die Cardassianer nicht für den Anschlag verantwortlich sind, wer ist es dann?“
Es war Sisko anzusehen, wie unbehaglich er sich fühlte. „Nun, das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es spricht Einiges dafür, dass es sich hier um eine Aktion der Khon Ma gehandelt hat.“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“
„Weil der Attentäter nachweislich dieser Organisation angehörte.“ Der Kommandant von DS9 zögerte kurz, ehe er fortfuhr: „Sein Name war Tahna Los.“
Es gelang Kira nur unzureichend, ihren Schock zu verbergen. „Das ist unmöglich! Tahna Los befindet sich ...“
Ein warnender Blick ihres Vorgesetzten, veranlasste sie, ihren Satz nicht zu beenden.
In Siskos dunklen Augen las die Bajoranerin, dass er denselben Verdacht hegte. Tahna Los war nach seiner Verurteilung vor zwei Jahren in ein Hochsicherheitsgefängnis eingeliefert worden. Von dort konnte niemand entkommen. -- Es sei denn mit Hilfe der einzigen Person auf Bajor, deren bloßes Wort allein genügte, um jede Kerkertür zu öffnen. -- Und die einen Grund hatte, Bareil und ihr den Tod zu wünschen, weil sie die einzigen waren, die wussten, wer hinter dem Anschlag auf das Leben des Vedeks gesteckt hatte. Aber Tahna Los war tot, und damit zugleich auch der einzige Zeuge, der ihre Vermutung hätte bestätigen können. Es war sinnlos, Anschuldigungen zu erheben, für die es keine Beweise gab. Aber was noch weitaus schwerer wog, Bajor konnte es sich derzeit nicht leisten, seine politische Glaubwürdigkeit dadurch zu verlieren, dass einer seiner wichtigsten Repräsentanten mit einem Terroranschlag in Verbindung gebracht wurde. Bajors Ansehen musste um jeden Preis geschützt werden. Daher durfte sie Gul Dukat keinerlei Anlass geben, dieselbe Schlussfolgerung zu ziehen, wie sie.
Siskos Reaktion bewies, dass er derselben Ansicht war. „Sie haben mir noch immer nicht verraten, wieso Sie eigentlich hergekommen sind“, sagte der Kommandant von DS9 schnell, als er das nachdenkliche Stirnrunzeln des Cardassianers bemerkte.
„Tatsächlich nicht?“ Gul Dukats Tonfall verriet, dass er sich durchaus bewusst war, dass man ihm etwas verheimlichte, jedoch bereit war, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Im Geist formulierte Sisko bereits eine Stellungnahme, die geeignet war, die provisorische Regierung zu veranlassen, die Entschuldigung des Befehlshabers der zweiten Flotte als ausreichend zu akzeptieren. Er kannte den ehemaligen Präfekten lange genug, um zu wissen, dass der Cardassianer nichts zu verschenken pflegte.
„Nun, Commander“, fuhr Gul Dukat inzwischen fort. „Der Grund für meinen Besuch dürfte doch wohl auf der Hand liegen. Es geht um diese gefangene Maquis, Ro Laren, die zurzeit auf Ihrer Krankenstation behandelt wird. Mir liegen Beweise vor, dass sie in den vergangenen drei Monaten an verschiedenen Terrorakten gegen die cardassianische Zivilbevölkerung in der entmilitarisierten Zone beteiligt war. Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass sie für diese Verbrechen sühnen muss, oder?“
Sisko rang sich ein Nicken ab, froh, dass seine Stellvertreterin sich darauf beschränkte, dem Baseball auf seinem Schreibtisch ein nie zuvor gezeigtes Interesse zu bekunden. Gul Dukat ignorierte Kiras Schweigen und der Kommandant von DS9 fügte in Gedanken seiner Stellungnahme noch den einen oder anderen Satz hinzu.
„Ich versichere Ihnen, dass Ro Laren vor Gericht gestellt wird. Ob vor ein bajoranisches oder vor eines der Föderation, hängt von der provisorischen Regierung ab.“
„Das will ich nicht bezweifeln“, sagte der Cardassianer glatt. „Allerdings wage ich zu bezweifeln, ob eines dieser Gerichte geeignet ist, in dieser Sache ein gerechtes Urteil zu fällen.“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Sisko alarmiert.
„Aber das ist doch ganz einfach, Commander. Ich bin hier, um im Namen meiner Regierung die unverzügliche Auslieferung der Terroristin Ro Laren zu verlangen.“
* * *
Das erste, was Ro registrierte, als sie wieder zu sich kam, war der typische Geruch, der jeder Krankenstation in diesem Universum anhaftete. Dann vernahm sie zwei Stimmen, die sich unweit des Bettes leise unterhielten.
„Ihre Regierung hat sich tatsächlich entschlossen, sie einfach so auszuliefern, obwohl man weiß, was die Cardassianer mit ihr machen werden?“
„Die Mehrheit war der Ansicht, jemand, der sich an einem religiösen Führer vergriffen habe, verdiene weder Mitleid noch Gnade.“
„Und Vedek Bareil?“
„Er hat sich vehement für sie eingesetzt, doch was gilt sein Wort schon gegen das der Kai!“
„Und weshalb kommen Sie zu mir?“
„Weil Sie der Einzige sind, der uns helfen kann. Sobald sie sich in der Arrestzelle befindet, ist eine Flucht unmöglich. Aber die Krankenstation wird nicht bewacht. Alles, was Sie tun müssten, ist, im richtigen Moment den Kopf in die andere Richtung zu drehen.“
„Wissen Sie überhaupt, was Sie da von mir verlangen?“
„Ja, und falls Sie ablehnen, dann werde ich das akzeptieren. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie cardassianische Folterknechte ihre Opfer zu quälen pflegen, dann ...“
„Schon gut, ich habe verstanden. Wenn ich mich weigere, verurteile ich sie zu einem schrecklichen Tod. Offenbar bleibt mir keine andere Wahl.“
Ganz langsam sickerte die Erkenntnis in Ro Larens Bewusstsein, dass das Gespräch sich um sie und ihr Schicksal drehte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf.
Major Kira und Julian Bashir fuhren herum.
„Sie sind wach!“, stellte der Arzt überflüssigerweise fest.
Die Bajoranerin nickte. „Schon seit einer ganzen Weile.“
Ro zögerte. Tief in ihr gab es einen Teil, der glauben wollte, was sie gerade gehört hatte. Doch welchen Grund sollten der Arzt und diese Bajoranerin da haben, ausgerechnet sie zu retten?
„Sie können uns vertrau...“, begann Julian, bevor ihn ein Blick der Major zum Verstummen brachte.
Kira kannte den Ausdruck in Ros Augen nur zu gut. Wer jedem mit Misstrauen begegnete, dessen Seele konnte nicht verletzt werden -- und darüber hinaus lebte er länger. Wahrscheinlich gab es kaum einen Bajoraner, der diese Lektion in den langen Jahren der Besatzung nicht gelernt hatte.
„Es ist nicht wichtig, ob Sie uns vertrauen -- solange Sie uns nur mehr vertrauen als dem cardassianischen Sinn für Gerechtigkeit.“
Diese ruhigen Worte überzeugten die andere Bajoranerin mehr als es jede noch so leidenschaftliche Beteuerung Bashirs je getan hätte.
„Sie haben also wirklich die Absicht, mich fliehen zu lassen. Aber warum?“
„Weil niemand es verdient, den Cardassianern lebend in die Hände zu fallen“, antwortete der Major knapp.
„Aber meinetwegen wären Sie beinahe getötet worden!“ Noch immer war Ro von der so unerwarteten Aussicht einer Rettung wie betäubt.
-- verdiente sie es überhaupt, vom Schicksal verschont zu werden? --
Sie hatte die Propheten beleidigt, indem sie die Person eines Vedeks missachtete.
-- aber hatte er sich nicht für sie verwendet, ihr vergeben? --
Infolge ihres Verrats waren Rayna und Perry einen völlig sinnlosen Tod gestorben.
-- aber hatte sie denn eine Wahl gehabt? --
Sie fühlte Kiras Blick auf sich ruhen. Der Vedek hatte gesagt, jeder müsse den Weg gehen, der ihm vorbestimmt wäre. Wenn die Propheten ihr diese Möglichkeit gaben zu entkommen, konnte das nur bedeuten, dass ihr Weg das Leben war. -- Und sie wollte verdammt sein, wenn sie nicht bereit war, ihn zu gehen, ganz gleich wohin er führen mochte.
Die Bajoranerin verbannte ihre Schuldgefühle in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins und konzentrierte sich mit aller Kraft auf das hier und jetzt.
„Wie wollen Sie meine Flucht bewerkstelligen? Ich bin sicher, dass sämtliche Luftschleusen bewacht und alle abfliegenden Schiffe kontrolliert werden.“
Der Major nickte. „Mit einer Ausnahme. In ungefähr einer halben Stunde wird hier auf der Station ein Schiff eintreffen, um Vedek Bareil zurück nach Bajor zu bringen. Die ehrenwehrte Kai hat darauf bestanden, ihren eigenen Kreuzer zu schicken.“
‘Ein geschickter Schachzug, um jegliche Gerüchte über eine Verbindung zu Tahna Los von vornherein im Keim zu ersticken’, fügte sie in Gedanken hinzu.
Laut fuhr sie fort: „Niemand wird es wagen, ein Schiff zu durchsuchen, das Winns Hoheitszeichen trägt, auch die Cardassianer nicht.“
„Aber wie gelange ich an Bord?“
„Vedek Bareil wird Sie als einen der Prylaren des hiesigen Tempels ausgeben, der ihn auf eigenen Wunsch nach Bajor begleitet.“
„Vedek Bareil will mich durch die Kontrollen schmuggeln?“, fragte Ro ungläubig.
„Er ließ sich nicht davon abbringen. Immerhin ist das Ganze ja auch seine Idee gewesen.“ Man musste Kira nicht genau kennen, um ihrem Tonfall zu entnehmen, was sie mit dem Geistlichen verband. Das Glück in ihrer Stimme rief Ro ein jungenhaftes Lächeln ins Gedächtnis, blaue Augen, deren klarer Blick bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien.
-- ich würde alles für dich tun, Laren --
Gewaltsam riss die Bajoranerin sich aus ihren Erinnerungen. Irgendwann einmal würde sie vielleicht stark genug sein, sich ihnen -- und dem Schmerz -- zu stellen. Doch das musste warten, bis sie in Sicherheit war.
* * *
Ro Laren musste sämtliche Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zu rennen. Sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass jeder wusste, wer sich hinter der schlichten Mönchkutte verbarg. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen zwang die Bajoranerin sich zu einem Tempo, von dem sie hoffte, dass es einem Prylaren angemessen war. Sie hatte den Andockring fast erreicht, als sie plötzlich mit einem Mann zusammenstieß, der offenbar gerade aus einem Seitengang gekommen war. Mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung wollte die Bajoranerin ihren Weg fortsetzen, wurde daran jedoch durch eine Hand gehindert, die sich um ihren rechten Oberarm legte.
„Na sowas, wenn das nicht Ro Laren ist. Ich muss schon sagen, meine Liebe, Sie haben es sehr eilig, uns zu verlassen. -- Und dafür zu sorgen, dass Major Kira und ihr Vedek und nicht zu vergessen natürlich auch der gute Doktor, in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.“
Der Klang dieser sanften, dunklen Stimme, ließ die Bajoranerin zusammenzucken. Entsetzt sah sie auf und erstarrte als sie direkt vor sich Garaks unbewegte Miene erblickte.
* * *
„Was soll das heißen, sie ist weg?“ Gul Dukat maß den Arzt mit einem mörderischen Blick.
Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Julian Bashir sich annähernd vorstellen, was ein bajoranischer Arbeiter empfunden haben mochte, der in den Fokus dieses Zornes geraten war. Eine Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte. Instinktiv wich der Mediziner einige Schritte zurück, froh darüber, eine Sternenflottenuniform zu tragen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fuhr Julians rechte Hand über seinen Nasenrücken, wie um sich zu vergewissern, dass es da keine Rippen gab, dass er nicht versehentlich doch ein bajoranischer Arbeiter und das hier gar nicht DS9, sondern Terok Nor war.
Ro Laren hatte die Krankenstation kaum verlassen, als der ehemalige Präfekt zusammen mit zwei Wachen aufgetaucht war, um die Gefangene in Empfang zu nehmen. Vedek Bareils Plan basierte darauf, dass die provisorische Regierung die Entscheidung über das Auslieferungsgesuch nicht vor dem nächsten Morgen offiziell bekanntgeben würde. Offenbar hatte es da jemand ausgesprochen eilig gehabt und nun bestand die Gefahr, dass alles umsonst gewesen war.
Im Geist ging Bashir den Weg von der Krankenstation zum Andockring nach. Selbst wenn sie durch die Gänge gerannt sein sollte, konnte Ro unmöglich schon an Bord des Schiffes sein.
Der Kommandant der zweiten Flotte schickte die Soldaten mit dem Befehl, die Bajoranerin zu suchen und, wenn möglich, lebend zu fangen, hinaus und wandte sich dann wieder an den Arzt. „Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie damit nichts zu tun haben.“ Gul Dukats Stimme klang fast unbeteiligt, was sie nur umso bedrohlicher machte. „Sobald wir diese Terroristin haben, wird sie mir erzählen, wer ihr zur Flucht verhelfen wollte. Und ich bin sicher, dass es ziemlich unerfreuliche Folgen für Ihre Karriere bei der Sternenflotte hätte, wenn dabei Ihr Name fallen sollte.“ Der Cardassianer machte eine kleine Pause. „Sofern Sie sich allerdings entschließen würden, uns bei der Suche nach dieser Verbrecherin zu unterstützen, wäre ich im Gegenzug bereit, die Rolle, die Sie bei dieser Angelegenheit gespielt haben, zu vergessen. Alles was ich verlange, ist, dass Sie mir verraten, zu welchem Schiff sie will.“
„Es tut mir leid“, erwiderte Julian fest. „Wie ich bereits erwähnte, ich weiß von nichts. Von einem Moment auf den anderen war sie plötzlich verschwunden. Ich wollte gerade Commander Sisko informieren, da sind Sie hier auch schon hereingeplatzt.“
„Wie Sie wollen. Wir werden auch so herausfinden, was ihr Ziel ist.“
„Vermutlich war es einer der kleinen Frachter am Andockring eins.“
Gul Dukat und der Arzt fuhren gleichzeitig zu dem Mann herum, der lautlos die Krankenstation betreten hatte.
„Garak!“ Der Kommandant der zweiten Flotte sprach den Namen wie eine Beleidigung aus.
„Was meinen Sie mit war?“, fragte Julian entsetzt.
„Genau das, was ich gesagt habe, Doktor“, erklärte Garak so gelassen, als würde er über die neueste Mode plaudern. „Ro Laren ist tot, ich selbst habe sie vor wenigen Minuten erschossen, oder besser ausgedrückt, in Rauch aufgelöst. Mein Phaser war wohl etwas zu hoch eingestellt. Wirklich bedauerlich, sie war wirklich hübsch, und noch so jung.“
* * *
Von dieser Ecke aus konnte man die ganze Bar einsehen, doch die beiden Männer, die dort an einem der kleinen Nischentische saßen, achteten nicht auf das bunte Treiben rund um die Theke und die Dabo-Tische. Garak brach als erster das Schweigen. „Wie hat Sie es aufgenommen? Ich darf doch annehmen, dass Sie es ihr nicht verheimlicht haben, oder?“
„Nein“, erwiderte Julian Bashir. „Das habe ich nicht und an Ihrer Stelle würde ich mich darauf einrichten, dass sie Ihrem Geschäft in nächster Zeit einen Besuch abstattet.“
Der Cardassianer verzog keine Miene. „Major Kira reagiert bisweilen recht emotional. Nun ja, vielleicht kann ich sie bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, sich von mir einige vorteilhaftere Kleider machen zu lassen.“
„Bitte sehr, zwei Portionen Hasperat und eine Flasche Tarrak-Wein, den besten, den die Bar zu bieten hat“, mit einem diensteifrigen Lächeln stellte Quark das vollbeladene Tablett ab.
„Sie irren sich“, widersprach Bashir. „Wir hatten keinen Tarrak-Wein bestellt.“
Der Ferengi kratzte sich mit einer fast verlegen wirkenden Geste am Ohr. „Die geht auf das Haus. Betrachten Sie es als Zeichen meiner Wertschätzung und Dankbarkeit.“
Garak hob eine Augenbraue. „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen einen Gefallen erwiesen zu haben, Sie Doktor?“
„Nein, und ich finde diese Großzügigkeit mehr als verdächtig.“
„Es gibt keinen Grund, mich zu beleidigen“, stieß Quark ehrlich empört hervor. „Nur weil ich es für meine Pflicht halte, Ihnen dafür zu danken, dass Sie das Problem mit dieser Ro Laren gelöst haben. Polizeiliche Nachforschungen schrecken Kunden ab und das ist schlecht fürs Geschäft. Nach einer Toten wird notwendigerweise nicht mehr gesucht. Warum auch? Und genau da liegt der Vorteil des Ganzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Damit drehte er sich um und verschwand wieder in Richtung Theke.
Kopfschüttelnd sah Bashir ihm nach, dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit erneut seinem Gegenüber zu. „Offen gestanden hat es mich erstaunt, dass Sie Hasperat bestellt haben. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich etwas aus der bajoranischen Küche machen.“
„Für gewöhnlich tue ich das auch nicht, aber mit Hasperat ist das etwas anderes. Allerdings haben Sie recht, es ist in der Tat schon sehr lange her ist, dass ich welches gegessen habe. Ich hatte fast vergessen, wie würzig und pikant es schmeckt, obwohl sich das Synthetisierte hier natürlich in keinster Weise mit dem vergleichen lässt, das ich vor vielen Jahren auf Bajor zu genießen pflegte.“
„Ich wusste gar nicht, dass Sie während der Besatzung auf Bajor gewesen sind.“
„Es gibt Einiges, das Sie nicht von mir wissen, Doktor.“ Der Cardassianer zögerte. „Damals kannte ich jemanden, der sich wie kein anderer auf die Zubereitung dieses Gerichtes verstand“, fuhr er fort, während der Blick seiner dunklen Augen sich in imaginäre Ferne zu richten schien. „Er machte das mit Abstand stärkste Hasperat, das ich jemals probiert habe. Verglichen damit schmeckt alles andere mild.“
„Und er war Bajoraner.“
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, trotzdem nickte Garak. „Ja, überrascht Sie das? Ich begegnete ihm in dem Flüchtlingslager, in dem ich damals stationiert war. Er trat dort als eine Art offizieller Verbindungsmann zwischen den bajoranischen Insassen und der cardassianischen Lagerverwaltung auf.“
„Sie waren in einem Flüchtlingslager stationiert?“ Julians Verblüffung wuchs.
„Ja, aber das ist wie gesagt schon sehr lange her. Ich war damals noch sehr jung, jedenfalls für den Posten eines stellvertretenden Lagerkommandanten. Aber ich stammte aus einer sehr reichen und sehr mächtigen Familie. Infolge eines verhängnisvollen Unfalles in seiner Jugend war meinem Vater die ersehnte militärische Karriere versagt geblieben und er hoffte, sein Sohn werde nun an seiner Stelle dieses Ziel erreichen. Er scheute weder Mühen noch Kosten, um mir eine Ausbildung zukommen zu lassen, die alles übertraf, was für die Offizierslaufbahn normalerweise üblich und erforderlich war. Ich lernte, wie man kämpfte und Kriege führte, doch ich tat es nur, um meinen Vater nicht zu enttäuschen. Insgeheim hasste ich die Armee mit ihrer starren Hierarchie. Ich hatte meine eigenen Vorstellungen über den Aufbau eines idealen Staatswesens -- und den Umgang mit unterworfenen Völkern. Daher suchte ich gleich am ersten Abend, kaum dass ich im Lager angekommen war, diesen Verbindungsmann in seiner Hütte auf, um mir seine Klagen und Vorschläge anzuhören.“
Der Cardassianer zögerte erneut, ehe er fortfuhr: „An diesem Abend habe ich das erste Mal Hasperat gegessen. -- Und mich dabei ertappt, ruhig dazusitzen, während ein Bajoraner die Politik meiner Regierung ganz offen kritisierte. Eine völlig neue Erfahrung für einen cardassianischen Offizier. Von da an verbrachte ich immer mehr Zeit in der baufälligen Behausung dieses Mannes. Schon bald begannen meine Untergebenen sich heimlich darüber lustig zu machen, doch das war mir ebenso gleich wie die Ermahnungen meines Vorgesetzten. Mir gefielen diese Abende und die schier endlosen Diskussionen, die wir führten. Einmal fragte ich ihn, ob er keine Angst habe, sich in meiner Gegenwart negativ über Cardassia zu äußern, doch er lachte nur und meinte, dass jeder den Weg zu gehen habe, den die Propheten ihm bestimmt hätten. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Er hat sogar versucht, mir Belaklavion beizubringen.“
„Belaklavion?“
„Ein altes, bajoranisches Instrument, von dem es heißt, seine Musik hätte magische Kräfte, die böse Geister vertreiben könnten, aber das ist natürlich Unsinn. Er war ein ausgezeichneter Spieler, doch ein sehr schlechter Lehrer. Oder besser ausgedrückt, er hatte einen miserablen Schüler.“
„Sie müssen ihn wirklich gemocht haben.“
Ein Schatten glitt über Garaks Züge. „Ja, das habe ich. Und ich vertraute ihm -- bis ich durch Zufall herausfand, dass er heimlich mit bajoranischen Rebellen in Verbindung stand. Mehr noch, er selbst gehörte zu den Anführern einer kleineren Widerstandsbewegung und hatte mich nur benutzt, um Informationen über das Lager zu erhalten. -- Jedenfalls war ich damals davon überzeugt.“
„Und was haben Sie getan?“, fragte Bashir mit angehaltenem Atem.
„Ich denke nicht, dass Sie das wirklich wissen wollen, Doktor.“
Im Kasino war es warm, trotzdem fröstelte Julian plötzlich. Der Cardassianer hatte recht, er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als das Thema zu wechseln. Doch da war etwas in Garaks Augen, das dem Arzt verriet, dass der Cardassianer zum ersten Mal ehrlich bereit war, ihm eines seiner dunklen Geheimnisse zu offenbaren. -- Mehr noch, der junge Offizier glaubte, darin das Verlangen zu entdecken, sich einem anderen anzuvertrauen.
„Doch, das will ich“, sagte er daher tapfer.
„Nun, wenn Sie darauf bestehen.“ Wieder dieser Blick, der durch Julian hindurch in irgendwelche Fernen zu gehen schien, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, zu Ereignissen, die lange zurücklagen.
„Der Kommandant des Lagers hatte vollstes Verständnis für meinen Zorn. Er war so großzügig, mir für das Verhör und bei der Bestimmung einer angemessenen Strafe völlig freie Hand zu lassen. Ich möchte Ihnen nicht den Appetit verderben, indem ich mich mit Details aufhalte. Nur so viel, die Exekution dieses Bajoraners hat lange gedauert -- sehr lange. Am Schluss flehte er mich auf den Knien an, ihn endlich zu töten. Als ich es dann schließlich tat, da sah er mich aus seinen dunklen Augen an und lächelte. -- Er lächelte, Doktor. Dann flüsterte er einige bajoranische Worte, die ich nicht verstand. Erst viele Jahre später habe ich ihre Bedeutung erfahren. Sterbend nannte er mich seinen Freund und bat die Propheten, mir zu vergeben. Seit diesem Tag habe ich nie wieder Hasperat gegessen.“
„Aber heute Abend haben Sie es bestellt.“
„Um Ihre unausgesprochene Frage zu beantworten, Doktor, manchmal tut man Dinge, ohne dass es dafür einen besonderen Grund gibt.“
Bashir musterte die Miene des Cardassianers, die wieder so undurchdringlich war wie der Arzt es gewohnt war. Für einen kurzen Augenblick hatte Garak einen der zahllosen Schleier gelüftet, die ihn und seine Vergangenheit einhüllten, doch nun war der Moment vorbei. Julian nahm es hin, wohlwissend, dass es sinnlos wäre, den Cardassianer um Antworten zu bitten, die dieser nicht zu geben bereit war.
Letztendlich spielte es auch keine Rolle. Der Arzt war sicher, dass es wieder Augenblicke wie diesen geben würde. Garak würde auch in Zukunft damit fortfahren, hier und da eines seiner vielen Geheimnisse zu offenbaren. Irgendwann einmal würden sich all die kleinen Mosaikteile zu einem Bild zusammenfügen -- und bis dahin würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben als seine Neugier zu bezähmen und sich in Geduld zu üben.
* * *
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne tauchten die weißgetünchten Mauern des kleinen Klosters in ein rotgoldenes Licht. Sie fielen durch die hohen Fenster in die kuppelförmige Gebetshalle und auf die Gestalt einer jungen Frau, die dort allein kniete. Sie trug ein einfaches, wollenes Gewand und hielt den Kopf gesenkt, so dass ihr offenes, halblanges Haar wie ein dunkler Schleier herabfiel. So tief war sie in ihre Meditation versunken, dass sie den alten Vedek erst bemerkte, als er bereits dicht vor ihr stand.
„Ich bin Vedek Seranus, der Vorsteher dieses Ordens. Vedek Bareil sagte mir, du seist auf der Suche nach Frieden.“ Seine Stimme klang warm und gütig, doch sie brachte keine Antwort heraus und begnügte sich mit einem stummen Nicken. Langsam streckte er die rechte Hand aus und als sie instinktiv vor der Berührung ihres Ohrläppchens zurückschreckte, glitt ein Ausdruck tiefsten Mitgefühls über seine Züge.
„Bitte vergebt mir“, hauchte sie. „Aber ich kann Euch mein Pagh nicht offenbaren.“
„Ich werde dich nicht dazu zwingen“, erwiderte er sanft. „Eines Tages wirst du bereit sein. Die Propheten werden warten. Bis dahin kannst du hier im Kloster leben.“
„Ihr erlaubt mir wirklich, an diesem geheiligten Ort zu bleiben?“
„Natürlich, was sollte dagegen sprechen?“
„Aber Ihr wisst nichts von mir. Ich verdiene es nicht, hier zu sein. Ich habe meine Freunde verraten. Sie vertrauten mir und ich habe sie im Stich gelassen. Es ist meine Schuld, dass sie nun tot sind und ihr Blut ist nicht das einzige, das an meinen Händen klebt.“
Sie hatte den Kopf gehoben und sah ihn nun aus großen, dunklen Augen an, in denen Verzweiflung lag.
„Das Leben ist ewig, die Schuld ist vergänglich. Wenn du wirklich bereust, werden dir die Propheten vergeben, was immer du auch getan hast.“
„Aber das ist es ja“, brach es aus ihr heraus. „Ich kann das Geschehene nicht bereuen, ich darf es nicht. Denn vor die Wahl gestellt würde ich die gleiche Entscheidung wieder treffen. Nun sagt selbst, ehrwürdiger Vedek, wie soll ich je von den Propheten Verzeihung erlangen?“
„Darauf kannst nur du eine Antwort finden.“ Der alte Vedek zögerte kurz. „Zunächst musst du versuchen, dir selbst zu vergeben. Nicht die vergossenen, die ungeweinten Tränen sind die, die unsere Seelen quälen. Wenn man den Schmerz besiegen will, dann muss man sich ihm stellen, anstatt ihn zu verdrängen.“
„Mein ganzes Leben lang habe ich immer nur gekämpft“, flüsterte sie tonlos. „Ich dachte, ich wäre stark genug, um mit allem fertigzuwerden, doch nun fühle ich mich unendlich schwach und leer. Wie soll ich es da schaffen, den richtigen Weg zu finden?“
Ein gütiges Lächeln glitt über seine Züge. „Hab Vertrauen in die Propheten. Mit ihrer Hilfe wird es dir gelingen. Ich werde dich nun wieder deiner Meditation überlassen.“ Damit wandte er sich ab und machte Anstalten, die Gebetshalle zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und warf der jungen Frau, die nach wie vor regungslos an der gleichen Stelle kniete, einen langen Blick zu. „Du bist noch nicht bereit, dein Pagh erforschen zu lassen und ich respektiere deinen Wunsch. Doch ich würde mich freuen, wenigstens deinen Namen zu erfahren.“
„Hat Vedek Bareil ihn Euch nicht genannt?“
„Nein, er hielt es für besser, dir die Entscheidung zu überlassen. Natürlich ist es keine Bedingung für deinen Aufenthalt hier, aber ich denke, es wäre ein erster Schritt auf dem richtigen Weg.“
Sie zögerte kurz, dann atmete sie tief durch. „Mein Name ist Ro“, sagte sie leise. „Ro Laren.“
ENDE
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